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GOLDWERT – Über den Reichtum des Wartens

27 Tage warten wir auf öffentliche Verkehrsmittel / 22 Wochen wartet der Mann vor Umkleidekabinen auf seine Frau / 7 Monate warten wir im Wartezimmer / 5 Jahre verbringen wir beim Schlangestehen

Nie zuvor verfügten wir über so wenig frei verfügbare Zeit wie heute! Und das, obwohl die moderne Medizin die Lebenszeit des Menschen verlängert. Es scheint, als könnte nichts diesen Trend zur Hochgeschwindigkeitsökonomie unterbinden. Selbst die modernste Technik versucht vergebens, durch immer effektivere und effizientere Arbeitsvorgänge für uns Menschen Zeit zu sparen. Doch wir scheinen unabwendbar unter Zeitdruck und Stress zu stehen.

Diese Umstände führen bei uns Menschen zu Intoleranz gegenüber den vorzufindenden Normen vergangener Generationen. Statt die alten Traditionen zu pflegen und mit Freunden die Nachmittagsstunden einem Kaffeeklatsch zu widmen, verfallen wir in Verhaltensmuster, die von Fastfood, Briefings, Speeddating und Snacks gesäumt sind. Permanent versuchen wir Zeit zu sparen. Dass wir währenddessen vergessen, die uns verfügbare Zeit zu leben und zu genießen, mag für einen Außenstehenden unverständlich erscheinen.

Der „Zeitsparer“ ist in Eile und bekommt von dem wertvollen Verlust meist kaum etwas mit. An den Rand der Leistungsfähigkeit gedrängt, übersehen wir die lebenswerten Dinge im Leben. Es scheint, als sei ein voller Terminkalender mit Meetings und Konferenzen das Kennzeichen eines erfolgreichen „Businessman“. Dass wir uns mit einer kontinuierlichen Belastung schaden, bleibt uns offenbar verborgen. Um jeden Preis wollen wir die Zeit bis ins kleinste Detail ökonomisch sinnvoll nutzen, selbst wenn wir damit einen „Zustand ausgesprochener emotionaler Erschöpfung mit reduzierter Leistungsfähigkeit“, ein sogenanntes Burnout-Syndrom, riskieren.

Das Warten verbirgt einen tieferen Sinn

Es ist unbestreitbar, dass das Warten ein alltäglicher Bestandteil unseres Alltags ist. Doch müssen sich die Betroffenen nicht immer gequält, unsicher, geärgert und unproduktiv fühlen und das Warten als etwas Lästiges empfinden.

Das Warten kann mit Annehmlichkeiten verbunden sein und das Leben der Menschen bereichern. Je nach Blickwinkel und Einstellung des Betrachters kann das Warten das Leben bunter, vielfältiger und friedlicher machen. Um die Vorzüge des Wartens nutzen zu können, bedarf es einer gewissen Gelassenheit des Menschen. Der Mensch benötigt in vielerlei Hinsicht Zeit für sich und seine Umwelt. Wie in der Musik der Rhythmus durch Pausen bestimmt wird, und ein Musikstück dadurch an Harmonie gewinnt, bestimmt das Warten unseren Rhythmus im Alltag und damit unser Wohlbefinden. Die negativen Assoziationen, die mit dem Begriff „Warten“ in Verbindung gesetzt werden, scheinen unter diesen Gesichtspunkten ungerechtfertigt zu sein. Das Warten muss nicht Stillstand bedeuten und auch keine vergeudete Zeit darstellen.

Eine Überlegung zum Zeitparadox

Konzentrieren wir uns ganz auf die Uhr und verfolgen bewusst jede Bewegung des Sekundenzeigers, kann eine Minute sehr lang erscheinen. So kommt es nicht selten vor, dass wir die Wartezeit als ein ewiges Nichts empfinden. Der Grund liegt darin, dass sich die Menschen nicht nur physisch, sondern auch mental im Prozess des Wartens befinden. Die kognitive Auseinandersetzung mit dem Warten bewirkt beim Menschen das Gefühl der Unendlichkeit.

Anders verhält es sich, wenn der Mensch rückblickend auf den Moment des Wartens blickt. Psychologische Untersuchungen haben ergeben, dass dem Menschen Wartezeiten kürzer erscheinen, wenn er in Form einer Metabetrachtung auf den Prozess des Wartens blickt. Diese Beobachtung wird auch als Zeitparadox bezeichnet.

Viele Menschen betrachten die „leere“ Zeit des Wartens als unerträglich und haben in der Hochgeschwindigkeitsgesellschaft verlernt, einfach mal nichts zu tun. An Warteorten sind eine Vielzahl an Menschen anzutreffen, die bemüht sind, in eifriger Geschäftigkeit das Warten mit neuem Input aufzufüllen. Diese Tätigkeiten sind jedoch weniger sinnvoll, als anzunehmen ist. Zum größten Teil

sind es Gewohnheiten wie essen, rauchen oder lesen, womit der Mensch sich vor der Langeweile zu schützen versucht.

Aus dem Warten können große Ideen entspringen

Darauf schwören viele Dichter, Denker und Musiker, die die kreativitätsfördernde Zeit zwischen Warten und Träumen sehr schätzen. Der Jahrtausendkomponist Johann Sebastian Bach war der Meinung, dass es nicht schwierig sei, musikalische Ideen zu finden, sondern vielmehr „morgens nicht auf sie zu treten.“ 

Diesem Gedanken sind viele Schlafforscher, Mediziner und Neurobiologen auf den Grund gegangen. Sie untersuchten, was in unserem Organismus passiert, während wir dösen, träumen oder einfach mal gar nichts tun. Es hat sich gezeigt, dass beim Dösen, also beim ziellosen Nichtstun, manche Hirnbereiche stärker aktiv sind als beim zielgerichteten Denken. Das legt auch eine Erklärung für jene Geistesblitze nahe, die uns mitunter aus dem Nichts heraus überraschen. Dies lässt sich wiederum damit erklären, dass beim Dösen der äußere Input fehlt und das Gehirn sich selbst überlassen wird: So „kann es sich wunderbar mit sich selbst unterhalten und gewissermaßen in sich selbst spazieren gehen“, meint der Hirnforscher Singer. Dabei kann das Gehirn auf einen riesigen Schatz an gespeichertem, innerem Wissen zurückgreifen. Dies schließt Erinnerungen aus frühester Kindheit und zufällig aufgeschnapptes und längst vergessenes Wissen im Unterbewusstsein ein. Das Gehirn hat Zeit, seine eigenen neuronalen Geschäfte zu ordnen, Netzwerke aus Nervenzellen neu zu organisieren, das Gedächtnis zu sortieren und Gelerntes zu verarbeiten. Des Weiteren wird, während wir dösen, der Leerlauf des Gehirns zur Pflege des eigenen Bewusstseins genutzt.

So kann zum Beispiel ein kurzes Nickerchen auch die Aufmerksamkeit erhöhen, die motorische Koordination und Genauigkeit stärken, die Wahrnehmungsfähigkeit und Entscheidungsfreude verbessern sowie Stress mindern. Somit ist das Nichtstun unabdingbar für das reibungslose Funktionieren unseres Denkens.

Wie mit dem Warten Profit gemacht wird

Das zeigt das Unternehmen Ditsch. Jeder in Deutschland hat die kleinen Ditsch Häuschen schon mal gesehen. Sie sind vor allem an hochfrequentierten Orten wie zum Beispiel Haltestellen oder dem Würzburger Hauptbahnhof zu finden. Die Verkäufer versorgen uns während der Wartezeit mit Brezeln und manch anderen Fast Food Snacks. Und jeder, der in der Nähe eines solchen Häuschens warten muss, findet doch noch irgendwo die nötigen fünfundsechzig Cent, um sich spontan mit etwas Essbarem die Zeit an der Bushaltestelle zu verkürzen. Diese Taktik wurde durch mehrere Unternehmen im Gastronomiegewerbe (z. B. Coffee Houses, Schnellrestaurants usw.) perfektioniert. Sie platzieren sich ebenfalls bevorzugt an Haltestellen und Bahnhöfen. Das ist ein cleverer Gedanke, denn wer steht schon gern mehrere Minuten im Kalten und wartet auf den Bus oder die Bahn? Da setzen wir uns zweifellos lieber in einen der bequemen Sessel im Café und kaufen noch ein warmes Getränk dazu.

Worauf lohnt es sich zu warten?

Unser Leben besteht zum größten Teil aus Gewohnheiten. Wir stehen auf, wenn der Wecker klingelt, essen, wenn es Zeit dazu ist – und eilen von Termin zu Termin. Am nächsten Morgen fängt alles von vorne an. Diese Gewohnheiten sind Automatismen, die ohne großes Nachdenken ausgeführt werden. Wird uns das bewusst, kann dies zur Langeweile führen, da sich nichts Besonderes ereignet oder verändert. Somit schätzen wir besondere Lebenseinschnitte wie das Eintreten in die Volljährigkeit, das Ende der Arbeitszeit, die Hochzeiten oder die Geburt eines Kindes – und erwarten sie mit großer Vorfreude. Neben den großen Veränderungen können es aber auch schon kleinere Dinge sein, die sich nicht täglich ereignen. Damit bleiben sie etwas Besonderes. Dazu kann zum Beispiel der Besuch bei den Eltern zählen, die weiter weg wohnen oder ein Marathonlauf, für den wir monatelang trainiert haben. Ganz gleich, was es ist, es sind Dinge, auf die wir uns freuen und die uns glücklich machen. Die Hinauszögerung des Wartens auf das Eintreten des Ereignisses steigert die Erwartung in uns und gibt uns ein Glücksversprechen. Es bekräftigt uns in unserem Handeln und gibt uns Hoffnung, auch schwierige Zeiten zu überstehen. Das warten auf bestimmte Einschnitte im Leben gibt uns eine Richtung und einen Zweck unseres Daseins. Des Weiteren steht das, worauf wir lange Warten und uns gedulden müssen, auch für die Qualität eines Produkts oder eines Ereignisses.

Um uns die Zeit bis zu einem freudigen Ereignis zu verkürzen oder sie greifbarer zu machen, beginnen manche Menschen die Tage in ihrem Kalender durchzustreichen oder einen Countdown auf ihrem Laptop einzurichten. Ebenfalls wird versucht, sich die Tage mit Kleinigkeiten zu verschönern, wie wir es aus der Weihnachtszeit, zum Beispiel vom Adventskalender, kennen.

Es ist mehr als nur warten

Wer kennt die Situation nicht: Man wartet in einer Schlange und steht vor einem Schild mit der Aufschrift „Bitte Warten“. Sei es zum Beispiel beim Frisör oder am Servicepoint der Bahn, immer werden Kunden ausgebremst und ihrer wertvolle Zeit beraubt. Doch das Warten muss nicht zwangsläufig etwas Schlechtes bedeuten.

Die Schilder mit den freundlichen Hinweisen versuchen die Folgen des Wartens zu beschwichtigen; an der gewiss unangenehmen Situation kann hingegen nur der wartende Mensch etwas ändern.  Wer imstande ist, loslassen zu können, kann das Warten ganz neu für sich entdecken. Sei es, sich mit einem kleinen „Nickerchen“ zu entspannen, sich in die eigene Gedankenwelt fallen oder den Blick in die Ferne schweifen zu lassen. In der Ruhe des Wartens ist der Mensch befähigt, über verschiedene Dinge nachzudenken, für die in der Regel im Alltag keine Zeit bleibt. Es ermöglicht uns das Sinnvolle vom Sinnlosen und das Notwendige vom Überflüssigen zu unterscheiden. Insofern sei an dieser Stelle Mut gemacht: Sollten Sie mal in die Situation geraten, warten zu müssen, lehnen Sie sich zurück und genießen Sie jede Sekunde.           

Text und Foto: Agathe Schütze

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