Sadomasochismus – ein Phänomen hinterfragt.
INTERVIEW MIT DEM PSYCHOLOGEN LORENZ WOHANKA
Was heißt sadomasochistisch aus psychologischer Sicht?
Wir Psychologen beschäftigen uns mit dem Verhalten und Erleben der Menschen. Dazu gehört auch sexueller Sadomasochismus. Er klingt als Wort in der Sprachmelodie schon nur wenig weich und bringt auch im Alltagsgebrauch, also im Verhalten der Menschen, Härte mit sich. Für den sadistischen Teil der Sexualität bedeutet das verstärkte sexuelle Befriedigung durch das Zufügen von Schmerz oder Erniedrigung. Der masochistische Anteil wiederum besteht in einer Verstärkung sexueller Befriedigung durch das Erleiden von Schmerz oder Erniedrigung bzw. Demütigung. Mehr heißt Sadomasochismus für Psychologen erst einmal nicht. Wichtig zu wissen ist noch, dass Geschlechtsverkehr nicht zwingend an sadomasochistische Praktiken gekoppelt ist. Im Gegenteil, oft werden beide Spielarten sexuellen Lebens getrennt oder sadomasochistische Praktiken als Teile eines Vorspiels verwendet.
Ab wann ist SM unnormal? Gibt es verschiedene EntwicklungsStufen, die man definieren kann?
In der Betrachtung und Einordung von Sadomasochismus scheiden sich die Geister. Es gibt neben kulturellen, theologischen und gesellschaftlichen auch unterschiedliche psychologische sowie psychotherapeutische Betrachtungsweisen. Ein allgemeiner Nenner aus psychopathologischer Sicht findet sich in den international gebräuchlichen Diagnose-Klassifikationen für Störungen und Krankheiten, DSM-V und ICD-10. Beide betrachten Sadomasochismus als Störung der Sexualpräferenz. Um jemanden als entsprechend gestört oder krank zu bezeichnen, sind allerdings weitere Kriterien notwendig: Der Betroffene muss beispielsweise unter seinem Verhalten leiden. Entwicklungsstufen gibt es nicht. Im Grunde muss man am Grad des Verhaltens messen und urteilen. Sadomasochismus ist wohl eher weniger der lustvolle Klatscher auf den Hintern seines Partners beim wilden Sex oder die verschämte Plüsch-Handschelle aus einem Sex-Shop. Vom Fesseln über Augenverbinden bis hin zum Auspeitschen und Fast-erwürgt-werden gibt es immer „Luft nach oben“ – oder eben unten. Unnormal ist ein sehr schwieriges und gefährliches Wort: Wir halten vieles für unnormal, weil es im Sinne einer Normalverteilungskurve eher nicht dem Durchschnitt entspricht. Insofern ist Sadomasochismus sicher nicht normal, ohne dass jemand deshalb als gestört zu klassifizieren wäre. Für einen Störungsbegriff ist es zwingend notwendig, dass jemand unter seinem eigenen Verhalten leidet oder das Leiden einer anderen Person hervorbringt, gegen deren Willen gehandelt wird oder die gar nicht fähig ist, in entsprechende Praktiken einzuwilligen.
Neigen mehr Frauen zu Masochismus? Sind immer die Männer sadistisch?
Nein, beide Fragen vereinfachen zu sehr. Es gibt letztlich wohl zu wenige gute gesicherte Befunde. Eine Untersuchung aus den USA in den 1980er Jahren gab eine Quote von 20 bis 30 Prozent von Frauen unter Sadisten und Masochisten an. Bordelle beispielsweise scheinen die These, die sich in der Frage verbirgt, zu widerlegen: Dort wird überwiegend der Service einer Domina als sadistischer Herrin angeboten und wohl fast ausschließlich von Männern als masochistischen Partnern nachgefragt. Über eventuelle Selektionsfehler bei solchen Ableitungen blicken wir jetzt einmal bewusst hinweg. Grundsätzlich leben nach Studien amerikanischer Forscher die meisten Sadomasochisten ein – von Ihren sexuellen Vorlieben einmal abgesehen – konventionelles Leben. Wenn sich ein Paar sicher in seinen sadomasochistischen Neigungen ergänzt, gibt es in aller Regel auch klare Regeln, Codewörter und festgelegte Vorgehensweisen. Wenn man es so sehen möchte, spielen da zwei Menschen eine Geschichte mit klar verteilten Rollen.
Weshalb löst dieses Thema einen solchen Hype aus?
Darüber kann ich als Psychologe auch nur vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklung mutmaßen: Auch wenn wir in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren eine beispiellose offene Sexualisierung von Alltag und Gesellschaft erlebt haben und erleben, sind Sexualität und konkreter Sex in seinen Spielarten natürlich immer etwas privates und damit automatisch in der öffentlicher Diskussion Aufsehen erregend. Zudem kann bei dem Thema nun wirklich jeder mitreden. Viele Menschen haben vielleicht auch sexuelle Träume, Rollenträume, die jetzt einmal ganz ungehemmt in einer Diskussion eingebracht werden können, weil ja gerade alle drüber reden und ich keine Angst oder Scham empfinden muss, wenn ich über das Thema spreche.
Kann man von SM auch als einem emanzipatorischen Moment sprechen?
Nun, zumindest kann ich an einem klar definierten Spiel zwischen zwei Erwachsenen, die sich bewusst auf Rollen und dann eventuell Rollentäusche einlassen, erst mal nichts grundsätzlich Nichtemanzipiertes erkennen. Allerdings halte ich es als Psychologe auch für absurd, in sadomasochistischen Praktiken einen expliziten oder gar zwingend notwendigen Beitrag zur Emanzipation zu sehen. Ich will es mal sehr pointiert ausdrücken: Wer sich selbstbewusst verhauen lässt, der scheint mir eher emanzipiert zu sein als der oder die, die nicht fähig sind, sich selbst, ihrer Partnerin/ihrem Partner oder der Gesellschaft gegenüber offen und in Selbstliebe zum eigenen Verhalten und zur eigenen Persönlichkeit zu stehen.
Lorenz Wohanka, Diplompsychologe und Coach.
Als Experte für das Verhalten und Erleben von Menschen ist Lorenz Wohanka in seiner eigenen psychosomatischen Praxis, in einem Studio für Körperarbeit und Pilates in Würzburg sowie als Unternehmensberater im gesamten deutschprachigen Raum tätig. Seine Schwerpunkte sind Verhaltensregulation und der Umgang mit Belastungsspitzen.
Fotografie: www.Studio5d.de