ARBEIT & VERGNÜGEN, GESELLSCHAFT, NACHBARN

BERLIN CALLING

Mein Name ist Andreas Piel. Ich bin gerade 30 geworden und vor einem halben Jahr nach Kreuzberg gezogen, nachdem ich die letzten vier Jahre den Prenzlauer Berg meine Heimat nannte. In den ersten Jahren als Wahl-Berliner habe ich zudem in Neukölln, Friedrichshain und auch für kurze Zeit in Charlottenburg gewohnt. Kurz gesagt: Ich bin in unserer Hauptstadt schon etwas herumgekommen. Derzeit arbeite ich als Alleinunterhalter in einem kleinen Café am Prenzlauer Berg. In Bayern habe ich damals eine Ausbildung zum Kinderpfleger absolviert, bin dann aber relativ schnell in die Gastronomie gewechselt. Vom Pizzabäcker über die Küchenhilfe und diverse Barjobs bis hin zum Eisverkäufer habe ich schon so ziemlich alles gemacht, was in dieser Branche eben so anfällt.

WANN HAST DU DIE „NACHBARSCHAFT“ VERLASSEN UND WARUM?
Nach Berlin zog ich im Frühjahr 2008, praktisch zeitgleich mit meinem damals engsten Freundeskreis. Zwei, drei Leute haben damals den Anfang gemacht. Bei ihnen war ich ein paar Mal zu Besuch und bin dann diesem ganz besonderen Berlin-Charme erlegen. Mein eigentliches Ziel war es, in der Hauptstadt mein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg zu absolvieren. So ist es dann zwar nicht gekommen, aber geblieben bin ich trotzdem – bis heute. Von einem kleinen einjährigen „Würzburg-Ausreißer“ der Liebe wegen mal abgesehen.

WAS EMPFINDEST DU NACH ALL DEN JAHREN, WENN DU HEUTE NACH WÜRZBURG KOMMST, UND WIE OFT BIST DU UNTERM JAHR DENN HIER?
Würzburg ist für mich natürlich Heimat, meine Familie lebt hier, eine Handvoll Freunde habe ich auch noch in der Stadt, genauso wie ein paar ehemalige Arbeitskollegen, mit denen ich mich gerne zum Essen treffe. Von diesen Punkten abgesehen ist Berlin nach sieben Jahren mindestens meine zweite Heimat geworden. Mein Lebensmittelpunkt liegt absolut hier – und die Heimatbesuche werden tatsächlich immer weniger. Weihnachten habe ich es bis jetzt noch immer nach Würzburg geschafft. Das Weindorf ist noch so ein Pflichttermin in meinem Kalender, ansonsten fahre ich überwiegend zu Familienfeiern nach Würzburg oder wenn ich auf der Durchreise bin.

WAS MACHT DEINEN NEUEN WOHNORT ATTRAKTIVER ALS WÜRZBURG? UND WO LIEGT DER GROßE UNTERSCHIED?
Tja, was macht Berlin attraktiver als Würzburg. Ich würde pauschal sagen: circa 3,5 Millionen mehr Menschen. Berlin ist eine Metropole, wie sie im Buche steht. Ein Melting Pot, ein „place to be“ für ganz Europa und wahrscheinlich die halbe Welt. Die Sprachen- und Kulturenvielfalt, quasi unbegrenzte Ausgeh- und Freizeitmöglichkeiten, Kreuzberg und Neukölln, die mitunter größte Bar-, Restaurant-, Streetfood, Café-, Club- und Konzertszene Europas, das Ungezwungene, die Weltoffenheit, die kulturellen Möglichkeiten, das Leben und Lebenlassen, der ganz besondere Berliner-Lebensstil, der im Süden Deutschlands nur schwer möglich ist, das eigene Stadtbild und und und. Manchmal hat man wirklich das Gefühl, hier oben arbeitet niemand. Die Cafés sind immer voll. Die Spätis ebenso. Hier kriegt man alles, immer, überall, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Es gibt wunderschöne Frauen – wobei hier Würzburg definitiv in der ersten Liga spielt – und vermutlich tausend andere Dinge, die ich vergessen habe aufzuzählen.

KÖNNTEST DU DIR DENN VORSTELLEN, EINES TAGES WIEDER IN DIE NACHBARSCHAFT ZU ZIEHEN? 
Ehrlich gesagt: nein – zumindest nicht aus heutiger Sicht. Aber man soll ja bekanntlich niemals „nie“ sagen. Ob es dann, im Fall der Fälle, wieder Würzburg werden würde, kann ich gar nicht sagen. Ich glaube, dieses urbane Lebensgefühl würde mir sehr fehlen. Und Kinder kann man in Berlin auch wunderbar großziehen. Auch wenn ich – wie gesagt – gern immer mal wieder nach Würzburg komme, muss ich gestehen, dass mittlerweile größere Glücksgefühle in mir aufsteigen, wenn ich die Berliner Stadttore entere. Stand heute also: Ich will in Berlin leben und hier alt werden.

WAS FEHLT DEM WÜRZBURGER AN SICH, VERGLICHEN MIT DEM HAUPTSTÄDTER?
Schwierige Frage. Franken und Berliner sind sich in ihrer leicht mürrischen Grundstimmung gar nicht so unähnlich. Was mir an mir selbst aufgefallen ist: Ich bilde mir immer weniger Urteile über andere Menschen, akzeptiere und respektiere andere Lebenseinstellungen viel stärker, Rechtsextremismus und andere unschöne Dinge mal ausgenommen. Diesen Respekt hat mich Berlin auf jeden Fall gelehrt. Der gemeine Franke könnte hin und wieder schon mehr über den Tellerrand blicken und vielleicht vor seiner eigenen Haustüre kehren, anstatt sich damit zu beschäftigen, was der Nachbar anfängt.

HAND AUFS HERZ: WIE VIEL HIPSTERTUM STECKT IN EINEM SELBST – NACH SIEBEN JAHREN BERLIN?
Schöne Frage. Ich sag mal: Da soll sich jeder ein eigenes Urteil bilden. An mir ist der Kelch bislang größtenteils vorübergegangen. Zugegeben: Ich habe schon einen Hang zu den schönen Dingen des Lebens, stehe total auf Third-Wave-Coffee und verbringe am liebsten den ganzen Tag in den vielen tollen Cafés, die Berlin zu bieten hat. Ich wohne direkt neben der Markthalle 9, dem Hipster-Zentrum schlechthin. Allein zum Streetfood-Tag stürmen jeden Donnerstag 5.000 Menschen dorthin. Trotzdem besitze ich kein Apple MacBook und mein Kleidungsstil ist nur bedingt hipster-like. Also alles im grünen Bereich!
Text: Daniel & Andi