Wo hört der Winter-Blues auf und wo beginnen handfeste Depressionen? Im Gespräch mit Diplom-Psychologe Lorenz Wohanka finden wir es heraus. Als Experte für das Verhalten und Erleben von Menschen treibt ihn die stete Neugierde auf seine Lieben Nachbarn, ihre Gedanken und Handlungen an – sowie die Möglichkeit, ihnen ihr Leben etwas leichter zu machen.
WAS SO MANCHEN SCHON IM HERBST EREILT UND ANDERE DANN NACH WEIHNACHTEN, WENN DIE TEMPERATUREN NOCHMAL IN DEN KELLER RUTSCHEN, WIRD UMGANGSSPRACHLICH HÄUFIG WINTER-BLUES GENANNT. WOHER KOMMT DIESES PHÄNOMEN?
Winter-Blues ist ein altbekanntes Phänomen: Wir Menschen sind wie nahezu alle Lebewesen – von Tieren bis Pflanzen – in bestimmte Rhythmen eingebunden. Bei uns gibt es dazu einen Nervenkern, den Nukleus suprachiasmaticus (NCS), der sozusagen unser innerer Taktgeber ist und über den Außenreiz Tageslicht getriggert wird. Wahnsinnig spannend ist der Abgleich zwischen dieser inneren Uhr und dem äußeren Taktgeber, dem Tageslicht. Denn dieses beeinflusst entscheidend unseren Hormonhaushalt und damit unsere inneren Rhythmen. Im Winter führt die reduzierte Dauer des Tageslichts zu Veränderungen: Der NCS steuert unter anderem die Ausschüttung des sogenannten Schlafhormons Melatonin. Es wird nur bei Dunkelheit gebildet, womit wir sofort nachvollziehen können, warum wir bei nur acht Stunden Tageslicht deutlich schläfriger und antriebsloser sind als bei beispielsweise 17 Stunden, um die Extreme zu nennen. In einer weiteren Schaltstelle des Hirns, dem Hypothalamus, kommt es zu verringerter Serotoninproduktion. Bei Depression wiederrum spielt ein veränderter Serotoninspiegel auch eine Rolle, sodass wir plötzlich in einem komplizierten Wechselspiel aus Licht und Hormonen bzw. Transmittern stehen – und hier liegt wohl auch die Ursache des Winter-Blues.
ALSO IST WINTER-BLUES EINE VERHARMLOSENDE BEZEICHNUNG FÜR WINTERDEPRESSION?
Nein, der Begriff Winter-Blues ist nicht verharmlosend, denn er beschreibt etwas anderes als eine Depression. Beide Begriffe sollte man sorgfältig voneinander trennen. Eine sogenannte Winter-depression ist auch wieder von anderen Formen der Depression zu unterscheiden, weil sie eben eine saisonale Komponente besitzt. Der Winterblues wird demgegenüber in der Fachsprache oft auch als subsyndromale Winterdepression bezeichnet: Die Leute sind ein wenig antriebslos und nicht gerade bester Laune, depressiv jedoch mit Sicherheit nicht! Am besten verwendet man den Begriff Depression nur für die tatsächlichen Störungsbilder und nicht inflationär für eine gedrückte Stimmung. Letztlich gibt es – und da beginnt die diagnostische Kunst meiner ärztlichen und psychotherapeutischen Kollegen – fließende Übergänge in den Randbereichen. Gesund und krank ist nicht immer so schön abzugrenzen, wie wir uns das wünschen.
WAS HAT DIE WINTERDEPRESSION MIT DER RICHTIGEN DEPRESSION ZU TUN?
Die Winterdepression, sofern man diesen Begriff verwenden möchte, ist eine phasisch eben entlang der Jahreszeiten auftretende echte Depression. Sie gibt es in allen Ausprägungen, also mit milden bis schweren Verläufen. Ihr Alleinstellungsmerkmal ist der saisonale Charakter, den man nach bisherigem Forschungsstand sehr gut über die Zusammenhänge zwischen Licht als Taktgeber und der inneren Regulation hormoneller Regelkreise erklären kann.
WIE KANN MAN SICH GEGEN DIE ÜBLE LAUNE DES WINTERBLUES WAPPNEN BZW. WAS KANN DAGEGEN UNTERNOMMEN WERDEN?
Einiges! Ganz wichtig ist sicherlich Aktivität im Sinne von Sport und Bewegung, unbedingt an der frischen Luft und im Tageslicht. Genau von Letzterem gilt es nämlich, möglichst viel abzubekommen, wenn Herbst und Winter ohnehin schon mit der Lichtmenge geizen. Gerade auch, weil man wenig Antrieb hat, sollte man – salopp formuliert – den Körper und seine Systeme auf Trab bringen und die positiven hormonellen Effekte von Bewegung ausnutzen. Denken Sie nur an die Befunde zu den dopaminergen Effekten des Laufens: Jede Leserin und jeder Leser wird schon einmal etwas von Glückshormonen gehört haben. Sport, im Übrigen ebenso wie Sex, regt diese an.
WO VERSCHWIMMEN DIE GRENZEN ZWISCHEN SCHLECHTER LAUNE UND KRANKHEIT? AB WANN SPRICHT MAN VON EINER „RICHTIGEN“ DEPRESSION – UND KANN MAN HIER SYMPTOME FESTMACHEN, BEI DENEN EIN ARZT AUFGESUCHT WERDEN SOLLTE?
In der Psychopathologie unterscheiden wir Haupt- und Nebensymptome der Erkrankung. Eine richtige Depression ist immer gekennzeichnet von tiefer Traurigkeit, Gefühlen von innerer Leere und dem Verlust von Interesse sowie Freude: Nichts, auch Dinge, die zuvor Freude machten, bereiten dem Betroffenen noch mehr Spaß. Zudem verlieren Menschen unter dem Einfluss einer Depression auch für scheinbar alltägliche Verrichtungen jegliche Kraft: In der Folge nimmt die Motivation zu Körperpflege, eigener Versorgung und ähnlichem immer weiter ab. Darüber hinaus gibt es Zusatzsymptome wie erhöhte Schläfrigkeit bzw. Tagesmüdigkeit, die sich abends bessern, sowie Gedanken an Tod und Sterben. Grundsätzlich sollte man bei scheinbar grundloser, länger als 14 Tage dauernder Traurigkeit und sich verminderndem Antrieb mit einem Arzt sprechen – und zwar am besten mit einem, der einen gut kennt, beispielsweise dem Hausarzt. Gemeinsam mit ihm kann man dann weitere Schritte einleiten.
WER GLAUBT, NICHT MEHR NUR AN WINTER-BLUES, SONDERN AN DEPRESSIONEN ZU LEDEN, BEKOMMT IM ERSTEN MOMENT VIELLEICHT PANIK. WAS SOLLTE MAN TUN?
Genau das, was ich gerade schon angesprochen habe: Gemeinsam mit dem Hausarzt den Besuch bei einem Psychiater und Neurologen in die Wege leiten und zusätzlich möglichst rasch psychotherapeutische Hilfe bei ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten suchen. Das sind durchaus zwei verschiedene Dinge, die jedoch zum Wohle des Patienten Hand in Hand gehen sollten. Indem psychotherapeutische und psychiatrische Arbeit von Anbeginn miteinander kombiniert werden, steigert man erheblich die Erfolgsaussichten einer Therapie. Gemeinsam mit ambulanten Ärzten und Therapeuten kann dann auch seriös abgewogen werden, ob beispielsweise eine Kur oder ein Klinikaufenthalt notwendig und hilfreich sind.
LORENZ WOHANKA, Diplom-Psychologe und Coach. Als Experte für das Verhalten und Erleben von Menschen ist Lorenz Wohanka in seiner eigenen psychosomatischen Praxis, in einem Studio für Körperarbeit und Pilates in Würzburg sowie in der Unternehmensberatung im gesamten deutschsprachigen Raum tätig. Seine Schwerpunkte sind Verhaltensregulation sowie der Umgang mit Belastungsspitzen und Ängsten.