GESELLSCHAFT, NACHBARN, SEHEN-HÖREN-FÜHLEN

ZUVIEL & ZUWENIG

Viel „Zuviel“ und doch viel „Zuwenig“ – die Generation der Fremde in der Nähe.

Ich sitze an meinem Schreibtisch und möchte mich gerade konzentrieren, Max Webers Abhandlung über „soziale Gebilde“ zu folgen, als mein Nachbar just die Art von Musik aufdreht, welche meiner Konzentration nicht gerade förderlich ist. In diesem Moment frage ich mich schon, ob die Privatsphäre des Anderen denn auch Teil meiner Privatsphäre sein muss. Ich kann nicht immer selbst das Maß an Kommunikation bestimmen, welches mich umgibt. Das schränkt mich ein und nimmt mir einen Teil meiner Freiheit. Ähnlich verhält es sich mit den Beziehungen, in denen ich lebe, oder den Freundschaften, die ich ständig gegen andere Freundschaften austausche. Die digitalen Medien helfen uns, Beziehungen einzugehen und längst eingeschlafene Freundschaften wachzuküssen. Ist diese neue Art des Kontaktknüpfens ein nicht mehr wegzudenkendes Zeichen der Zeit oder das Ergebnis einer besorgniserregenden Entwicklung? Kommunizieren heißt: Jemandem etwas mitteilen, mit jemandem sprechen, aber auch jemanden an etwas teilhaben lassen. Lieber Nachbar, Du musst mich nicht dazu nötigen, Deine Lieblingsmusik zu hören! Manchmal wollen wir nicht „kommunizieren“, müssen es aber, als Opfer infolge einer weit entwickelten Massentechnologie.

Beziehungen leben von zwischenmenschlicher Kommunikation. Das Internet gilt als „Symbol für optimierte Kommunikation“ (Debatin) und andererseits als ethische Herausforderung, die der Medienethik neuen Diskussionsstoff liefert. Etymologisch betrachtet sind soziale Beziehungen Interaktionen, die zwischen Personen oder zwischen Personen und Gruppen bestehen können. Sie lassen sich hinsichtlich ihrer Dauer (kurzzeitig vs. überdauernd), ihrer Inhalte (Attraktivität, Aggression, Machtverteilung), ihrer Konsequenzen (minimal vs. maximal), ihrer Intensität (hohes vs. geringes Ausmaß), ihres Verpflichtungsgrades (freiwillig vs. unfreiwillig) und der Anzahl an Betroffenen (zwei oder mehr) unterscheiden. Diese Differenzierungsmöglichkeiten zeigen uns an, dass zwischenmenschliche Abläufe hochkomplex sind und stets äußeren Einflüssen unterliegen. Daher ist es offensichtlich, dass sich die Beziehungen der Menschen untereinander verändern müssen, wenn sich unsere Umwelt verändert, wenn uns neue Möglichkeiten zur Interaktion – wie derzeit über Facebook oder WhatsApp – geboten werden.

Auch das Sprichwort „Ein Blick sagt mehr als tausend Worte“ ist wichtiger denn je in einer Gesellschaft, deren Mitglieder aus Zeitgründen lieber rasch eine WhatsApp-Nachricht verfassen, als sich Zeit für eine persönliche Begegnung zu nehmen. Es kommt zu einer Trennlinie zwischen medienvermittelter (Massen-)Kommunikation und unmittelbarer Kommunikation mittels Gespräch (face to face). Daher ermöglicht digitale Kommunikation nicht nur die Aufhebung von Grenzen, sondern trennt Menschen zugleich voneinander. Während die technische Entwicklung beschleunigt wird, verlieren unsere kommunikativen Fähigkeiten an Substanz und unsere sprachliche Ausdruckskraft verschlechtert sich: Abkürzungen sollen mal schnell verdeutlichen, dass man jemanden lieb hat; Smileys werden als Stellvertreter genutzt, um auszudrücken, dass man sich auf jemanden freut; SMS, die ihrem Namen nach „short“ (kurz) sind, verkürzen darüber hinaus unsere Kompetenz, einen grammatikalisch korrekten Satz zu verfassen. Die Beziehung zu den Menschen, die in meiner Nähe leben, kann ich aktiv mitgestalten. Ich kann Distanz schaffen oder sie durch eine Einladung zum Abendessen reduzieren. Ich kann ein soziales Netz knüpfen und selbst entscheiden, wie dicht dieses sein soll, wie gut es gearbeitet ist.

An der englischen Sprache ist gut erkennbar, dass unterschiedliche Arten von Netzen möglich sind: ein Fischernetz (net), eine Vernetzung im Business (network), ein U-Bahn-Netz (system), ein Netz (web), oder das Internet (the Net). Aber was ist das für ein Netz, das wir „sozial“ nennen? Wann bezeichne ich meinen Nachbarn als Nachbarn? Wie weit darf er von mir entfernt sein? Ein soziales Netz ist ein mehr oder weniger großes Agglomerat an Beziehungen, in die ich eingebunden bin. Es sollte mir nützlich sein und einen stabilen Untergrund für mich und für meinen „socius“ (Gefährte, Freund) darstellen. Wie überlebenswichtig ein soziales Netz sein kann, zeigt sich vor allem in Situationen, in denen eben dieses Netz versagt.

Im amerikanischen Englisch gibt es die Redewendung „to fall through the cracks“ (aus dem sozialen Netz herausfallen). Für manche tut sich dieser „crack“ (Riss) bereits auf, wenn sie aus dem „social network“, sprich Internet und Facebook, fallen, sobald sie keinen Internetzugang haben. Wer süchtig nach diesen sozialen Netzwerken ist, wird schnell unruhig, depressiv und verzweifelt. Unser deutsches Sprichwort „jemandem ins Netz gehen“ ist eine Anspielung darauf, dass ein Netz auch eine Falle sein kann. Davon spricht man spätestens dann, wenn Menschen nicht mehr wissen, ob ein Netz dicht ist oder löchrig – und man sich nicht mehr in der Lage sieht, zu erkennen, wer ein Freund ist (und damit das Netz stabilisiert) oder wer dieses Netz beschädigt.

Wir leben in einer Zeit, in der es von allem viel, manchmal sogar ein großes Maß an „Zuviel“ gibt. Wenn Maren Würfel von der Universität Erfurt sagt: „Schon immer in der Geschichte der Medien haben neue Medien den Menschen Angst gemacht“, dann macht sich in mir die Angst breit, dass die Beziehungen unter uns Menschen immer mechanischer und unpersönlicher werden, dass wir unser Leben verkomplizieren und dabei irgendwann vergessen, wie man andere Menschen nach ihrem Namen fragt.
Text: Ruth Hümmer-Hutzel