Der junge Mann hier ist 32 Jahre alt, hat Soziale Arbeit studiert, seine Abschlussarbeit über Sprayen und Jugendarbeit geschrieben und nennt sich selbst nur POLAR. Wir treffen ihn an der großen Brücke der Zeppelinstraße, der Hall of Fame, wie er sie liebevoll nennt.
Vor uns steht ein Kerl, der so gar nichts mit Jugendlichen zu tun hat, die sich in Hinterhöfen durch schnelle Schmierereien einen Adrenalinkick verschaffen. Vielmehr erkennen wir schon die Ernsthaftigkeit seiner Berufung, als er die Maske aufsetzt und fürs Foto die Farbdose schwenkt. „Sprüher sind verrückte Charaktere“, sagt er mit einem Lächeln im Gesicht, als er die Maske wieder abnimmt. Graffiti – das ist für ihn kein x-beliebiges Hobby, sondern vielmehr Lifestyle. POLAR ist Sprayer durch und durch, von Kopf bis Fuß – ebenso wie sein kompletter Freundeskreis. Im zarten Alter von 18 hielt er zum ersten Mal eine Dose in der Hand, damals war er noch stark in der Hip-Hop- und Skaterszene verwurzelt. Heute arbeitet der 32-Jährige in Würzburg als Sozialarbeiter und bezeichnet sich selbst als Schönwettermaler, der lieber bei Plustemperaturen und Sonne seinem Tagwerk nachgeht.
„Nicht alles aus der Dose ist Kunst.“
Würzburg ist eine sehr saubere Stadt, allerdings fehlt es ihr an Streetart, erklärt der Sprayer. Es sei ziemlich schwer, legale Flächen wie in der Zeppelinstraße zu finden, obwohl es viel Potenzial und Gebäude gebe, um sich zu entfalten. Aus diesem Grund gilt in der Szene das ungeschriebene Gesetz „Male nie über bessere Werke“. Allerdings respektiert man sich und die Bilder anderer Sprayer hier in Würzburg für gewöhnlich – selbst wenn längst nicht alles Kunst ist, was aus der Dose kommt. Man muss klar unterscheiden zwischen ernsthaften Bildern und Schmierereien.
„Graffiti ist eine Mischung aus Übung und Talent.“
Der kreative Prozess beginnt schon weit vor dem eigentlichen Akt des Sprühens, wenn POLAR etwas in sein Black Book skizziert. Eigentlich zeichnet er nämlich bevorzugt Kalligraphie – also Schriften –, aber auch Figuren. Seine Identifikationsfigur ist der Eisbär. Dabei ändern sich Stile ebenso wie der Mensch hinter der Dose von Zeit zu Zeit. Auch die Stimmung beeinflusst am Ende natürlich das Ergebnis. Ist er fröhlich, sind die Formen rund und die Farbauswahl bunt; bei Stress wird es zackiger und die Farben düsterer. Immer dazu gehören Freiheitsgefühl und Rebellion. Der Sprüher gestaltet die Welt um sich herum selbst, besonders den urbanen Teil (s)einer Stadt.
„Ich bin kein 15-Jähriger, der Garagen anmalt.“
Gelegentlich gibt der Mann mit Basecap, Handschuhen und Maske Workshops an Schulen und nimmt Privataufträge an. Dann gestaltet er beispielsweise Wohn- und Kinderzimmer oder Leinwände. Für Unternehmen hat er bereits Logos entworfen und ganze Läden „bemalt“. Allerdings kommt hauptberufliches Sprayen für POLAR nicht in die Dose – dann nämlich sei es immer Arbeit und irgendwann kein Lebensgefühl mehr. Selbst im Urlaub hat er immer ein Dose im Gepäck. Werke von ihm kann man in Los Angeles und San Francisco bestaunen, in Amsterdam, Spanien oder Abu Dhabi. Dabei ist er über das Internet mit Gleichgesinnten vernetzt und könnte laut eigener Aussage in vielen Städten dieser Welt problemlos einen Schlafplatz finden. Er und seine Kollegen gehen mit offenen Augen durch die Welt und saugen möglichst viele Eindrücke auf. In ihre Kunstwerke fließen Elemente und Themen aus dem Alltag ebenso ein wie verschiedene Illustrationen oder Typografie.
„Meine erste Dose war Autolack für 10 Mark.“
Seinen Anfang nahm Graffiti im New York der 80er-Jahre. Seitdem entwickelt sich diese Kunstform stetig weiter. Längst hat die Werbeindustrie den Trend aufgenommen, Logos im Graffiti-Stil sind allgegenwärtig. Auch bei Techniken und Farben der Sprayer hat sich im Vergleich zu früher einiges getan. Heute gibt es verschiedene Aufsätze für unterschiedliche Strickstärken, die Lacke sind deutlich haltbarer geworden, lassen sich besser verarbeiten. Einst war das Sprayen Teil der Jugendkultur, heute gehe es POLAR und anderen hauptsächlich darum, ihr Können zu zeigen und zur Schau zu stellen. Die Kulturform erntet mehr Respekt, wird ernst genommen, die gesellschaftliche Akzeptanz ist höher. „Narrenhände beschmieren Tisch und Wände“, sagte einst der Volksmund. Und heute? Da erreichen Mockumentaries wie „Exit Through The Gift Shop“ über den berühmten Streetart-Künstler Banksy ein Millionenpublikum.
Text: Jasmin Schindelmann & Dominik Ziegler; Fotos: Dominik Ziegler