Ein Gespräch mit DEM DIPLOM-PSYCHOLOGEN Lorenz Wohanka. Als ExperteN für das Verhalten und Erleben von Menschen treibt ihn die stete Neugierde auf seine LIEBEN NACHBARN, Ihre Gedanken und Handlungen an. In dieser Ausgabe steht das Zusammenleben im Blickpunkt: Insbesondere in jungen Jahren, während Ausbildung und Studium, entdecken viele eine für sie gänzlich neue Lebensform: die WG.
Auch unter älteren Semestern gibt es manchmal Wunsch-WGs, manchmal Zwangs-WGs, weil die eigene Lage und der Wohnungsmarkt nichts anderes zulassen. Jeder stellt unterschiedliche Ansprüche an eine WG: zusammen Dinge machen, zusammen leben, wohnen, sich arrangieren – kurz: Welten prallen aufeinander. Wie das Zusammenleben gelingen kann und welches Verhalten zu einer erfolgreichen WG führt – Fragen, deren Antworten wir suchen.
Für viele ist sie das STADIUM zwischen Elternhaus und eigener Wohnung – und es gibt scheinbar viel Konfliktstoff in WGs. Was macht diese Wohnform eigentlich so besonders?
Das neue Umfeld – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zum Ersten lösen sich Menschen aus einer alten, oft über die Jahre gewohnten Umgebung sowie einer sozialen Bezugsgruppe und kommen in eine vollkommen neue Gemeinschaftssituation. Familie und Mitbewohner sind jedoch nicht nur unterschiedliche soziale Bezugspersonen, sie stellen in der Regel auch ganz unterschiedliche Anforderungen an sozialen Umgang. Idealerweise wird der zwar in Familien vermittelt, real stellen sich jedoch in WGs oft große soziale Probleme, weil beispielsweise keiner der Beteiligten adäquat in der Lage ist, Konflikte zu thematisieren und zu lösen. Zum Zweiten hat die neu zusammengewürfelte Gruppe ja noch keine Erfahrung miteinander – das stellt einen Unsicherheitsfaktor dar. Hier spielt plötzlich eine Rolle, wie gut Menschen Unsicherheit aushalten und welchen Fokus sie haben: Sind sie eher gemeinschaftsorientiert oder individuell auf sich bezogen? Und wie geübt sind sie darin, auf Neues und Fremdes zuzugehen? Der dritte und meist unterschätzte Faktor ist: Ich treffe auf Menschen mit ganz anderen Gewohnheiten und im Extremfall einer ganz anderen Erziehung. Für uns selbstverständliche Umgangsformen und Gebräuche werden infrage gestellt und sind plötzlich Gegenstand der Diskussion statt unverbrüchliche Bezugsrahmen.
Wie sollte man ein gutes WG-Zusammenleben organisieren?
Das Ganze ist theoretisch sehr einfach: Man benötigt Disziplin, Offenheit für Erfahrungen und die Bereitschaft zu kommunizieren. Überall, wo wir Menschen eine Gruppe bilden, ist eine gemeinsame Wir-Bildung nötig. Im Sport nennen wir das Resultat der Wir-Bildung Teamgeist. Wenn Ihr so wollt, muss jede WG einen klaren Teamgeist entwickeln. Der kann übrigens vollkommen unterschiedlich sein: Es gibt WGs, in denen es offensichtlich nicht nur um Zusammenwohnen im Sinne geteilter Mietkosten geht. Vielmehr stehen auch gemeinsame Aktivitäten an, es wird zusammen gekocht, gefeiert und dergleichen mehr. Andere WGs haben den reinen Zweck, Wohnraum zu erschwinglichen Preisen zu ergattern. Beides ist möglich, beides erfordert Teamgeist und den Willen, die gemeinsame Situation erfolgreich zu gestalten. Problematisch ist, wenn jemand, der keinen neuen „Familienanschluss“, sondern lediglich Wohnraum sucht, in eine gemeinschaftlich besonders aktive WG kommt oder umgekehrt. Da stehen plötzlich Sichtweisen diametral gegenüber und das erzeugt über kurz oder lang Spannungen. Im Grunde gilt deshalb ganz allgemein: Trefft konkrete Absprachen und haltet Euch daran; wer das nicht kann, wird auch im weiteren Leben Probleme bekommen, denn ihm fehlen Verbindlichkeit und Zuverlässigkeit und damit die Grundlage für das Vertrauen anderer in ihn.
Das bedeutet aber auch, WGs können helfen, gerade solche Fähigkeiten zu trainieren?
Natürlich. Beziehungen zu anderen zu führen, ist die Notwendigkeit schlechthin in einer Gesellschaft – das kann man mit Geschwistern, Eltern, Vereinskameradinnen und -kameraden, in Schule, Studium und eben auch in der WG üben. Die WG ist natürlich eine besondere Situation: Hier erlebe ich Menschen in ihrem Alltag, mit ihren Marotten und Eigenheiten, die fordern uns allzu oft heraus. Im Grunde genommen ginge ich immer mit spielerischer Leichtigkeit an so etwas heran: Wenn ich mit einem oder mehreren anderen Menschen gemeinsam ein Projekt verfolge, dann sollte ich mich für die anderen und ihre Motive interessieren und schauen, ob meine Ideen und die Ideen der anderen zueinander passen. Wenn das nicht der Fall ist, wird es eher schwierig mit einer gemeinsamen Linie – und ich sollte für mich Konsequenzen ziehen.
Wie löst man denn Konflikte in WGs?
Hier ginge ich erst einmal einen Schritt zurück: Absprachen und entsprechende Disziplin a priori entziehen Konflikten um Rechte und Pflichten in einer WG schon einmal den Nährboden. Insofern gibt es dann wesentlich weniger Konfliktpotenzial, also auch weniger Konflikte, die zu lösen sind. Wenn es denn schon brennt, gilt es – wie in allen Konflikten dieser Welt -, Friedensverhandlungen zu etablieren. Dabei ist es dann wichtig, für die eigenen Standpunkte angemessen Verantwortung zu übernehmen und zugleich aktiv lösungsorientiert zu denken. Viele Konfliktgespräche sind de facto keine Gespräche, sondern eine Ansammlung von Schuldzuweisungen und Vorwürfen.
In WGs mit drei Mitbewohnern bilden sich im Konfliktfall gern Allianzen. Es heißt dann oft: Zwei gegen Einen. Gibt es da einen Königsweg?
Wenn sich die Allianz demokratisch wechselnd bildet, kann – denke ich – jeder Mensch damit leben. Man unterliegt dann eben einmal mit seinem Standpunkt, ein anderes Mal setzt man sich durch. Problematisch wird es, wenn es rein emotional geprägte Allianzen sind und einer der Beteiligten von Haus aus immer den Verlust hat. Das wird nicht tragen, da gibt es einen Königsweg: Trennung der WG, falls vorhergehende Gespräche keinen Nutzen zeigen.
Was also sind dann die Zutaten für eine erfolgreiche WG?
Ganz einfach: Klarheit, Offenheit, diplomatische Direktheit und die Erfahrung, sich mit anderen einigen zu können. Wer von Kindesbeinen an daran gewöhnt wurde, sich mit anderen zusammenraufen zu müssen, weil sonst kein vernünftiger Umgang möglich ist, ist hier im Vorteil. Am besten verabschiedet Ihr Euch auch von der Idee, dass immer alles harmonisch laufen muss – so funktionieren Leben und Entwicklung nicht. Reibungspunkte sind notwendig und wichtig, denn daran entwickeln sich Verständnis und Fähigkeiten. Seht eine WG als Übungsfeld: Übt Streiten, Feiern, Lernen, Wohnen, Verantwortung übernehmen, schlicht: Leben mit all seinen Anforderungen!
Text: Lorenz Wohanka