Für zwei Minuten denke ich nichts, gar nichts. Meine Bewegungen folgen nur meinen Reflexen. Ich spüre nicht das Zittern meiner Muskeln, nicht den Schweiß auf meiner Stirn, nicht den harten Boden unter meinen nackten Füßen. Beinahe alles um mich herum versinkt; die Gesichter der Menschen ziehen pfeilschnell vorbei, einzig ihr Gesang, die Musik und der Rhythmus strömen durch meinen Körper und Geist. Es gibt nur mich, mein Gegenüber und den Augenblick. Es gibt nur Capoeira.
Capoeira ist Geschichte
Zwei Minuten. Dann streckt er seine Hand aus, ich reiche ihm meine und wir verabschieden uns, kehren beide zurück in die Realität, es war ein gutes Spiel, schnell und vor allem präzise, das ist Capoeira. Nüchtern betrachtet und laut Definition eines bekannten Internetlexikons ist Capoeira ein „brasilianischer Kampftanz“. Emotional betrachtet ist Capeira das, was in den ersten Zeilen dieses Textes beschrieben wird. Einzigartig, voller Adrenalin – in erster Linie natürlich für die „Capoeiristas“, die sich in der „Roda“ (dem Kreis) gegenüberstehen und in einer Art Dialog abwechselnd Angriffs- und Verteidigungstechniken austauschen, ohne sich dabei jedoch ernsthaft zu treffen oder gar zu verletzen. Zollen wir der Lexikondefinition ein wenig Respekt und blicken wir auf die Fakten: Ja, Capoeira ist eine Art Kampftanz und stammt aus Brasilien. So genau lässt sich das allerdings nicht sagen. Die Wurzeln hatte die Capoeira wohl ursprünglich in Afrika, dort eventuell als eine Art religiöser Ritus. Während der Kolonialzeit im 18. Jahrhundert brachten die afrikanischen Sklaven Capoeira dann nach Lateinamerika, hauptsächlich nach Brasilien. Mit dem heutigen Sport hatte diese Form allerdings sehr wenig gemein. Nach einigen fließenden Weiterentwicklungen wurde Capoeira von den Sklaven im Kampf gegen die bewaffneten Sklavenjäger oder von rivalisierenden Banden als gefährliche und sogar tödliche Kampftechnik in den Straßen Rio de Janeiros oder Salvador de Bahias eingesetzt. Ab 1889 wurde sie in Brasilien sogar verboten und ihre Ausübung unter Strafe gestellt.
Capoeira ist Musik
Erst 1937 wurde das Capoeira-Verbot in Brasilien aufgehoben. Das ist vor allem einem Mann zu verdanken, der vom Status her gesehen guten Gewissens als der Urvater der zeitgenössischen Capoeira bezeichnet werden kann: Mestre Bimba. Durch die Integration weiterer Elemente aus anderen, zum Teil auch asiatischen Kampfsportarten und effektiven sowie systematischen Trainingsmethoden verhalf er der Capoeira schließlich zum Aufstieg. Weitere große Mestres (Meister) folgten im Lauf der Jahre und Jahrzehnte und machten diese Sportart weltweit bekannt. Soviel also zur Geschickte – in sehr gestraffter Form. Doch wie funktioniert Capoeira? Ein kleiner Crashkurs: Bei Capoeira wird nicht gekämpft, sondern in einem Kreis – der Roda – „gespielt“. Die Roda besteht aus einer unbestimmten Anzahl von Capoeiristas und einer Bateria, den Musikern. Denn Capoeira ohne Musik wäre undenkbar, Musik ist so etwas wie die Seele dieses Kampfsports. Das Hauptinstrument der Bateria ist die Berimbau. Es handelt sich dabei um einen Musikbogen, der aus einem Holzstab (Verga) und einer Metallsaite (Cabca) besteht. In der Hand hält der Musiker zusätzlich eine Caxixi (Holzrassel), ein Barreta (Schlagstock) und ein Dabrao (Münze, Stein). Die damit erzeugten Töne klingen im ersten Moment eher seltsam. Unterstützt wird der Berimbau-Spieler unter anderem von einem Schellentamburin (Pandeiro), einer Seiltrommel (Atabaque) oder einer Metallglocke (Agogo). Während einer Roda wird darüber hinaus beinahe durchgehend gesungen. Der Berimbau-Spieler, welcher das Spiel leitet, wechselt dabei zwischen verschiedenen und unzähligen Capoeira-Liedern, den Cantigas. Sie handeln von Themen wie Unterdrückung, Freiheit und natürlich Liebe. Dazu klatschen die umstehenden Capoeiristas im Takt und singen bestimmte Teile der Lieder laut mit; der Rhythmus und die Musik dienen aber keineswegs zur Unterhaltung: Sie bestimmen die Art des Spiels. Schnellerer Rhythmus – schnelleres und vielleicht aggressiveres Spiel, ebenso umgekehrt.
Capoeira ist Kommunikation
Das Hauptbekleidungsstück der Capoeiristas ist eine weite Hose aus einem speziellen und äußerst widerstandsfähigen Polyester-Stoff. Traditionell ist dies „Abada“ weiß, aber mittlerweile gibt es solche Hosen in vielen verschiedenen Farben. Schuhe werden von den meisten Mestres nicht gerne gesehen, man spielt also barfuss. Am Strand in Brasilien mag das kein Problem sein, aber auf hartem Hallenboden hierzulande holen sich Anfänger zunächst eine gehörige Portion Blasen. Wer als Mann über die nötige muskulöse Optik verfügt, lässt zudem das T-Shirt weg. Beim eigentlichen Spiel bewegen sich zwei Capoeiristas in der Roda zur Musik und führen verschiedene Angriffs- und Verteidigungstechniken aus – meistens, ohne sich dabei zu treffen oder überhaupt treffen zu wollen. Der Großteil der Angriffsbewegungen besteht aus Tritten beziehungsweise „gezogenen“ Beinbewegungen oder auch Würfen, die alle aus einem Grundschritt heraus vollführt werden, der „Ginga“. Das bedeutet also, die Capoeiristas sind immer in Bewegung, es gibt keinen Stillstand. Garniert wird ein solches Spiel mit allerlei akkrobatischen Bewegungen, vor allem Rädern oder diversen Überschlägen und natürlich Ausweichtechniken. Soviel zur einfachen Version von Capoeira. Kompliziert ausgedrückt müsste es heißen: Capoeira ist eine Art der Verständigung, ein Frage-Antwort Spiel. Eine Angriffsbewegung zieht eine Verteidigungsbewegung nach sich. Die Capoeira ist nicht statisch, sie fließt. Die Techniken der Capoeiristas verlaufen ineinander. Je nach Art des Spiels kann es auch heftiger zur Sache gehen, die Intensität bestimmten die Spieler selbst, zum Teil natürlich auch der Rhythmus der Bateria. Es geht dabei nicht ums Gewinnen oder Verlieren, die Capoeiristas entscheiden selbst, wann sie den – friedlichen oder eher kämpferisch geprägten – Dialog beenden. Dann sind zwei andere an der Reihe. Das ist anstrengender, als man jetzt vielleicht denken mag. Capoeira verlangt vollste Körperbeherrschung und absolute Konzentration, selbst bei langsameren Spielen. Denn hier geht es vor allem auch um die korrekte und akkurate Ausführung der Bewegungen.
CAPOEIRA ist Vielfalt
Eine weitere Besonderheit: Capoeira verfügt über kein einheitliches Graduierungssystem. Der höchste „Rang“ ist zwar überall auf der Welt der des Mestre, daneben existieren aber beinahe in jeder „Groupo“ unterschiedliche Kordelsysteme, die ähnlich wie bei Karate über den Fähigkeitsstand des Capoeiristas Auskunft geben sollen. Dieses Durcheinander ist darauf zurückzuführen, dass es nicht DIE Capoeira gibt. Es existieren zwar zwei große „Hauptströmungen“ – Regional (schnell, akrobatisch) und Angola (eher traditionell, weniger spektakulär) –, aber daneben gibt es unzählige weitere Stile. Das hängt auch in besonderem Maße von dem Mestre der jeweiligen Groupo ab. Zwar waren in den letzten Jahren vermehrt Tendenzen einer gegenseitigen Annäherung der verschiedenen Stilrichtungen zu beobachten; diese Entwicklung steckt jedoch noch in den Kinderschuhen.
Capoeira ist Trend
Zwei, drei, vielleicht vier Minuten, länger dauert ein Dialog zwischen zwei Capoeiristas in der Regel nicht – das ist anstrengend genug. Um in der Sprache unserer Zeit zu bleiben: Capoeira ist ein Ganzkörper-Workout. Anfänger spüren nach ihren ersten Trainingseinheiten jeden einzelnen Muskel im Körper. Und der der menschliche Körper hat viele Muskeln. Sehr viele. Ich spreche aus eigener Erfahrung. Kennengelernt habe ich diese außergewöhnliche Kampfsportart auf ungewöhnliche Weise. Ja, ich gebe es zu: Ich gehöre der Playstation-Generation an. Krummer Rücken inklusive. Eines der beliebtesten Spiele für die erste Generation der Konsole war die „Tekken-Serie“, ein innovatives „Prügelspiel“. Dort gab es einen Charakter mit dem klangvollen Namen „Eddy Gordo“. Dieser praktizierte Capoeira als Kampfstil, was schon auf dem TV-Screen sehr spektakulär anmutete. Später kam ich zu dem eher trashigen Film „Only the Strong“ mit Marc Decascos. Auch dort wird Capoeira in eine 0815-Prügelfilm-guter-Junge-gegen-Bösewicht-Filmhandlung verpackt. Unter heutigen Capoeiristas genießt der Film dennoch einen gewissen Kultstatus und für Interessierte ist er auf jeden Fall einen Blick wert
Capoeira ist Freiheit
Klingt pathetisch, ist aber so. Als Capoeirista in der Roda während eines Spiels schaltet man seinen Geist völlig aus. Man denkt nicht „Welche Technik führe ich als nächstes aus?“, man reagiert reflexartig. Das macht ein gutes Spiel aus. Musik, Gesang und Rhythmus tun ihr Übriges dazu und beflügeln die kommunizierenden Capoeiristas innerhalb des Menschenkreises. Und Capoeira ist vor allem auch Trend geworden. In immer mehr Städten gibt es Gruppen, auch an vielen Universitäten ist Capoeira im Sportangebot, internationale Festivals werden rund um den Globus zelebriert. Ob Capoeira zu Selbstverteidigung geeignet ist? Schwierige Frage. Wenn man es auf einem sehr hohen Level betreibt, dann durchaus. Zwar geht es in der Roda nicht darum, jemanden zu treffen, aber man könnte es, wenn man wollte. Ein Vorteil im Vergleich zu anderen Kampfsportarten ist sicherlich die enorme Dynamik von Capoeira. Dennoch: Geht es einem um reine Selbstverteidigung, sollte man nicht zu viele Hoffnungen in diese Sportart setzen, hier mögen asiatische Techniken überlegen sein. Aber wie schon erwähnt, es geht bei Capoeira nicht darum „Ich bin der Bessere“, man „prahlt“ nicht mit seinem Können. Capoeira ist zurückhaltend, kontrolliert, tiefgründig, gewieft. Capoeira ist beinahe ein Lebensgefühl. Und eigentlich schwierig zu beschreiben. Man muss es erleben. Wem das jetzt alles ziemlich spanisch vorkommt: fast richtig. Lieder, Techniken und sämtliche Begriffe der Capoeira sind der portugiesischen Sprache entnommen. Es schadet also nicht, wenn man ein klein wenig sprachbegabt ist. Wenn nicht, auch nicht schlimm. Learning by doing! Text: Michael W. Liebl
Fotos: Annika Kreikenbohm ist selbst Capoeirista, promoviert in Astrophysik und studiert Kommunikationsdesign. In ihrer Bilderserie „Die Kunst der Capoeira“, die noch bis zum 17. Mai 2017 im Buchladen erLesen zu sehen ist, visualisiert sie den einzigartigen Stil von Capoeirabewegungen. Die Kombination aus Langzeitbelichtung und Strobo-
skopblitzen ermöglicht es, sowohl die allgemeine, abstrakte Form der Bewegung, als auch ihren detaillierten Verlauf zu zeigen.