GESELLSCHAFT, NEWS

Neulandfrust

Die neueste Serie gestreamt, Nachrichten gelesen, kurz die Urlaubsfotos hoch- und das Rezept runtergeladen, Onlineticket gebucht, im Onlineshop bestellt – und per Onlinebanking bezahlt. Klar soweit? Fast. Denn es gibt sie tatsächlich noch, die weißen Flecken in der Internetlandschaft – auch bei uns in Franken. Ein Erfahrungsbericht.

Einem Bericht von akamai´s [state of the internet] Q4 2016 report zufolge liegt Deutschland im weltweiten Vergleich der Internetgeschwindigkeiten auf Platz 25 hinter Rumänien, Bulgarien und der Tschechischen Republik. Naja gut, wir müssen ja auch nicht überall Weltspitze sein. Doch in unserem Dorf in der tauberfränkischen Provinz übertreiben sie’s jetzt langsam – oder besser gesagt: untertreiben. Hier ist das Internet gerade mal ein Zehntel so schnell wie im bundesdeutschen Durchschnitt, vergleichbar mit Ländern wie dem Kongo, Venezuela oder dem Sudan. Seit 2004 haben wir sage und schreibe eine 2-Mbit-Anbindung. Mega, oder?

Eines Tages dann der Anruf von der Telekom-Hotline:

„Schönen guten Tag.“

„Hallo.“

„Ich rufe an im Auftrag der Telekom und wollte Ihnen mitteilen, dass wir im Zuge der Digitalisierung alle Telefonanschlüsse auf Voice-over-IP umstellen.“

„Sie meinen damit Telefonieren übers Internet?“

„Ja genau, die alten analogen Telefonanschlüsse werden abgeklemmt und telefonieren können Sie dann in Zukunft über das Internet.“ 

Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen.

„Nein, das glaube ich nicht.“

Kurzes Schweigen.

„Wieso denn nicht?“

„Naja, die Leitungen sind hier so schlecht, dass nur jeder zweite Haushalt überhaupt Internet hat. Für meinen Onkel mussten wir ein Kabel durch den Garten in sein Haus legen, der hat von Ihnen kein Internet bekommen.“ 

Der Mitarbeiter lacht. Ich lache nicht – war ja auch kein Scherz.

Nach einem 15-minütigen Telefonat stellte sich schließlich heraus, dass „man da leider nichts machen“ könne, es aber „zutiefst“ bedauere und die Umstellung auf IP-Telefonie in jedem Fall kommen werde. Da die Telekom bei einer derart schlechten Leitung allerdings keine zuverlässige Funktion gewährleisten könne, gäbe es nur die Möglichkeit, das Internet komplett abzustellen und über einen analogen Anschluss zu telefonieren. Alternativ ließe sich die Leitung auf DSL-Light (384 kbit/s) drosseln. Hier böten sich dann 240 kbit/s fürs IP-Telefon (Sprachqualität „Dosentelefon“) und 144 kbit/s zum Surfen (Surfqualität: „Windstille“). Kurz gesagt: Das entspräche noch einem mickrigen Prozent der Durchschnittsgeschwindigkeit in Deutschland. Man bräuchte dann zwei Minuten, um eine Website zu öffnen, fünf Tage, um einen Film über Amazon-Prime zu laden und ein Game-Blockbuster à la GTA V trüge seinen Namen zu Recht, da die Installation geschlagene fünf Wochen dauern würde!

Schadenfreunde

Also kontaktierte ich kurzerhand über die noch vorhandene Telefonleitung den für uns zuständigen Bürgermeister der größeren Nachbarstadt: Ja, er verstehe, dass das Internet wichtig sei. Nein, zeitgemäß sei das alles nicht. Ja, natürlich gehe Homeoffice nur mit Internet. Deshalb arbeite man fieberhaft an einer Lösung. Nein, darauf könne er momentan nicht näher eingehen. Ich müsse aber auch verstehen, dass die Erschließung einer so kleinen Ortschaft unrentabel sei und überaus belastend für die Kommune. Auf meine Frage hin, ob man uns im Falle der Nicht-Erschließung im Gegenzug von der Steuer befreien könne, fiel ihm plötzlich ein, dass er für das Thema ja der völlig falsche Ansprechpartner sei und das Internet in den Zuständigkeitsbereich der Telekom falle. Bei Letzterer erfuhr ich wiederum, der Ausbau des Netzes sei Ländersache – und so ging es eine ganze Weile hin und her.

Nachdem ich meinen Freunden davon erzählt hatte, überflutete mich eine Welle der Hilfsbereitschaft. Einer erklärte sich bereit, mir einmal wöchentlich meine E-Mails auszudrucken und mit der Post zu schicken. Ein anderer wollte mir – da wir hier nebenbei bemerkt auch kein Handynetz haben – meine Whatsapp-Nachrichten vorlesen, inklusive sämtlicher (!) Emoticons! Wieder ein anderer bot an, für mich nach Gefühl Online-Bestellungen zu tätigen. Er kenne ja schließlich meinen Geschmack und könne schon beurteilen, was mir gefalle und was nicht.

Auch die Idee zu einer neuen Reality-Soap für RTL kam zur Sprache: „Leben in den 90ern“. Man könnte natürlich auch, analog zu den Nachkriegsjahren, Internetmarken an mich verteilen. Kurz: Alle haben herzlich gelacht. Ich nicht. Wieder mal.

Laaaaaaaange Leitung

Einer Aussage der zuständigen örtlichen Behörden zufolge, sollten wir „gegebenenfalls Ende 2018“ in den viel gepriesenen Netzausbau integriert werden. Man weise jedoch ausdrücklich darauf hin, dass es sich um eine vorläufige Planung handle, die keinerlei rechtsverbindliche Wirkung habe. Heißt im Klartext: bestenfalls anderthalb Jahre kein Internet – schlimmstenfalls nie mehr. Damit nahm die Suche nach dem (Internet-)Passierschein A38 ihren Lauf; vom Callcenter der Deutschen Telekom ging es zum Bürgermeister, von dort zum Verantwortlichen für Wirtschaftsförderung, weiter zum Landratsamt, von da aus zum Bundeskartellamt, von dort zur Bundesnetzagentur (mit Abstecher zur Verbraucherschutzzentrale) bis hin zum Wahlkampfbüro des Bundestagsabgeordneten unseres Bezirks. Im Großen und Ganzen waren die Reaktionen überall ähnlich; man verstehe nicht, wie man ein ganzes Ort vom Internet abklemmen könne, es handle sich bestimmt um einen bedauernswerten Einzelfall, man werde versuchen, das zu verhindern, glaube aber nicht, da viel bewirken zu können.

Immerhin: Mittlerweile ist unser Ort in der Region bekannt wie der berüchtigte bunte Hund. Neun Monate wurden wir von einem Kontakt an den nächsten weitergereicht. Drei Wochen vor der Zwangskündigung unseres Anschlusses durch die Deutsche Telekom war es dann soweit: Der Brunnen, aus dem ich meine stoische Gelassenheit zu schöpfen pflegte, war leer – und der Krug längst zerbrochen. In einer letzten verzweifelten E-Mail teilte ich dem versammelten Zuständigen-Korps mit, dass selbst zu uns „Hinterwäldlern“ der vom Bundesgerichtshof bestätigte Grundrechtscharakter des Internets durchgedrungen sei – und dass die Bundesnetzagentur für einen „diskriminierungsfreien Internetzugang“ zu sorgen habe.

So weit, so skurril, so wahr! Immerhin blieb unser Bauernaufstand nicht gänzlich ungehört. Nach aktuellem Stand sollen wir nun doch 2017 angeschlossen und die Zwangskündigungen unserer Internetanschlüsse solange aufgeschoben werden. Geht doch, danke! War das jetzt so schwer? Vielleicht kann ich ja dann meine überteuerte Wohnung in Würzburg wieder kündigen und im Home Office arbeiten. Auf eine gigagantische Zukunft!

Text: Sebastian Fiedler