NACHBARN, SEHEN-HÖREN-FÜHLEN, STADTBILD

Im August

Im August ruht die Stadt. Sie ruht sich aus vom Lärm, vom Stress und von der Hektik. Vom  Menschen. Solange ich denken kann, ist das so im August. Als Jugendlicher war da nur dieses vage Gefühl, dass in diesem Monat irgendetwas anders ist. Undefiniert. Nach Jahren bilden sich Konturen, formen sich Muster und am Ende herrscht Gewissheit:

Der August ist ein Exot. Das könnte das vorläufige Ende dieses Textes sein. In einer Zeit, in der stumpfe Parolen und Protestschildsätze mehr Publikum erreichen als Erläuterungen, kann ich jetzt auch aufhören. Speichern, Laptop zu.

Der August ist ein Exot.
Der August ist ein Idiot.
Der August ist ein Chaot.
Und Steine hat er auch geschmissen!

Na gut, statt wütender Flüsterpost – der ganze Text:
In Deutschland, in Bayern, in Würzburg macht man im August:
Urlaub, Punkt. Entweder sind es die Sommerferien der Kinder oder der Kitas, die Semester- oder Betriebsferien, weil man es halt so macht oder schon immer so gemacht hat oder weil halt eh nur Wiederholungstatorte laufen. Ganz egal, aber Urlaub muss! Und so leert sich die Stadt …

Erst fällt auf, dass Parkplätze verwaisen – über Stunden, über Tage. Ungeahnter Freiraum entsteht. Dann fehlt der Verkehr. Tatsächlich fühlt es sich so an, als ob er fehlt. Der Lärm, die Geräuschkulisse, das Rauschen im Hintergrund, über Jahre dran
gewöhnt, wie an das Schnarcheln alter Hunde. Ab Anfang
August nimmt das ab. Von Tag zu Tag weniger – und irgendwann fehlt etwas.

Dem ungewohnten Fehlen folgt ein anderes, irrationaleres Gefühl, als müsse etwas passiert sein. Der inneren Weigerung, weniger Verkehrslärm in der Innenstadt für möglich zu halten, folgt die Überzeugung, etwas Großes, Absurdes oder gar Furchtbares wäre geschehen. Zu manchen Zeiten und an manchen Orten hört man jetzt gar nichts mehr. Es sei denn, man schafft es, am Großstadttinnitus vorbeizulauschen, denn dann hört man: Blätter. Blattwerkrauschen im Wind, mitten im Park. Ohne Auspuff, ohne Hupe, einfach Rauschen. Schaut man sich um, sieht man niemanden außer womöglich einer Amsel, die dich anschaut, als wüsste sie irgendwas. Die Amsel jedoch gibt den Geheimniskrämer, antwortet dem verwunderten Lauscher mit stoischem Blick und verzieht sich mit offener Gleichgültigkeit in die nächste Hecke. Viele Fragen, wenig Antworten und schon wird man zum Indizienrichter.

Die Straßen und Parks sind leerer, die Cafés ebenso und manche Restaurants haben gleich wochenlang geschlossen. Durch die Innenstadt kommt man, ohne vom Fahrrad abzusteigen, und muss dabei nicht einmal Junggesellenabschieden ausweichen. Es ist eine kurze Zeit im Sommer, in der auch kein großes Fest ansteht, kein Weinfest, kein Bierfest, kein Park-, Stadt-, Künstler-, Kontinent- oder Umsonstistdertod-Fest. Nichts.

Die Straßenbahnen sind kaum gefüllt und nachts erwischt man immer ein Taxi. Die Feierstraßen sind ruhiger, weniger verkotzt, und wenn man mal vergessen hatte den gelben Sack rauszustellen, merkt das nicht einmal jemand. Es beschwert sich auch niemand, klar, es ist ja auch niemand da. Menschen, die noch in der Stadt ausharren, benutzen ganz bewusst und selbstbewusst ihren Verstand statt der Fußgängerampel. Es hagelt auch keine Drohanrufe, wenn mal eine nicht funktioniert und nicht binnen Minuten oder umgehend repariert wird. Es ist ja niemand dahaaa! Ungeahnter Freiraum, für Mensch und Recht.

Um dann mal Ruhe in den Kopf zu bekommen, versuche ich mir manchmal selbst Irrationalität zu beweisen und zähle im Kopf die Sekunden, bis ich nach Verlassen des Hauses am Morgen dem ersten Menschen auf der Straße begegne. Wissenschaftlich fragwürdig. Trotzdem ein Weg, wieder Kontrolle zu erlangen, über den eigenen Kopf. 115, 116, 117 … 118 … 119 … 120. Niemand.

Das Treppenhaus, die Straße, der Sportplatz, der Fahrradweg, Liegeplätze am Main, Stehplätze bei den Brückenheiligen; alles  ist leer. Sicher, nicht völlig leer, und mein Kopf spielt sein Spiel, aber dennoch viel leerer als sonst – und wenn das so weitergeht hau ich auch ab, hier stimmt ja wohl was nicht! Und dann wieder diese Amsel und wieder dieser Blick … und dann … und dann … und dann … atme ich aus. Ich atme aus, immer weiter und immer mehr, bis irgendwann nichts mehr geht. Dann wieder ein, gleichmäßig und ruhig. Der Puls wird langsamer, der Blick klarer. Mehr Aus- als Ein-, das ist der Trick, das macht die Stadt.

Würzburg verlangsamt sich, beruhigt sich. Würzburg macht Yoga …und wir alle machen mit, kostenlos und nicht umsonst.

Text: Michel Mayr