Heimat ist ein ziemlich schönes Wort – und leider zugleich ein ziemlich furchtbares. Populistisch aufgeladen UND vielfach miss-braucht, fällt es schwer, diesen Begriff heute vollkommen wertfrei zu verwenden. Heimat besitzt (nicht erst in unserer Zeit) eine zutiefst politische Bedeutung. Auf der Suche nach einer Definition ist aber vielleicht gerade die zweite Dimension von Heimat entscheidend: nämlich die persönliche.
Heimat, das ist für mich der Ort, an dem ich geboren und aufgewachsen bin. Gute 40 Kilometer entfernt von Würzburg, im nördlichen Baden-Württemberg. Eine Kleinstadt, 3.500 Einwohner, zwei Tankstellen, ein Discounter, Metzger, Grundschule, Dorfdoktor, die obligatorische, natürlich erfolglose Bürgerinitiative, die seit gefühlten 150 Jahren für eine Umgehungsstraße kämpft – alles in allem also nichts Besonders. Aber eben – im Gegensatz zu Würzburg, wo ich seit über zehn Jahren lebe – meine Heimat.
Wenn ich an meinen Heimatort denke, dann denke ich zuerst an die Fleischküchle meiner Mutter. Natürlich die besten der Welt. Ich denke an einen Samstagmorgen, an dem aus unserer Küche der Geruch von angebratenem Fleisch in mein Zimmer steigt, und an die Geräusche, die einen Stock tiefer aus der Werkstatt meines Vaters schallen – durchmischt von heftigem Gefluche. Zuhause muss eben immer irgendetwas repariert werden. Und immer klappt dabei irgendetwas nicht. Soviel ist sicher. Überhaupt ist Heimat in diesen Momenten, die sich in meiner Erinnerung über Jahrzehnte hinwegziehen, vor allem Sicherheit. Das Gefühl, sich um nichts sorgen zu müssen, weil jedes winzige Detail so ist, wie es immer schon war – und auch für immer so bleiben wird.Doch genau an dieser Stelle tappen viele Menschen – mich eingeschlossen – in die Falle. Denn wenn ich heute durch meinen Heimatort schlendere, entlang der Hauptstraße, wo sich die geschlossenen Geschäfte wie glanzlose Perlen an einer Kette aneinanderreihen, über die pittoreske Brücke am Fluss mit ihren nur wenig pittoresken Graffitis (mein jugendliches Ich ist unschuldig!) bis hin zu den leuchtenden Rapsfeldern, die aufgrund ihrer intensiven Bewirtschaftung seit einigen Jahren bei starken Regenfällen für regelmäßige Schlammlawinen sorgen, dann muss ich mir offen und ehrlich eingestehen: Meine Heimat bleibt alles andere als gleich. Sie verändert sich unentwegt – und hat sich immer schon verändert.
Ein Großteil dieser Veränderungen sind negativ. Wie in vielen anderen vergleichbaren Ortschaften hat auch bei uns der demografische Wandel mit voller Wucht zugeschlagen, ebenso wie der Niedergang der Vereine oder die Erosion der gesellschaftlichen Infrastruktur. Es mangelt an Ärzten und Einkaufsmöglichkeiten, die letzten verbliebenen Gaststätten siechen dahin, seit jüngstem gibt es im Altort nicht mal mehr eine Bäckerei, es bleibt nur der Weg zum Discounter auf der ehemals grünen Wiese am Stadtrand. Ja, sogar die Fleischküchle meiner Mutter sind seltener geworden, da sie inzwischen aufgrund diverser Krankheiten in die Pflegebedürftigkeit gerutscht ist. Mein Vater flucht zwar wie eh und je, aber das ist dann auch ziemlich die einzige Konstante.
Und hier soll also meine Heimat sein?
Das Gute an einem persönlichen Heimatbegriff ist seine enorme Widerstandfähigkeit, seine Robustheit. Denn obwohl all diese nachteiligen Entwicklungen in meinem Dorf tagtäglich stattfinden, gibt es natürlich auch die andere Seite der Medaille. Der nette (eingewanderte!) Nachbar, der regelmäßig nach meinen Eltern sieht und meinem Vater zur Hand geht, der ehemalige Schulkollege, der den alten Hühnerstall auf der anderen Straßenseite gekauft und dort ein schmuckes Häuschen hingestellt hat, ohne neue Fläche zu versiegeln, das Ehepaar unten am Ecke, das mit großem Eifer und Investitionen zumindest am Wochenende ein kleines, gut besuchtes Kuchen-Café betreibt.
Wenn ich also heute an meine Heimat denke, dann spüre ich in meinem Herzen vor allem eines: ein tiefes, allumfassendes Gefühl von Vertrautheit. Vertrautheit im Angesicht stetiger Veränderung. Das ist mein persönliches, über die letzten Jahre gereiftes Verständnis von Heimat. Ein Verständnis, das mir dabei hilft, all jene leidigen populistischen Diskussionen um Heimat in unserer Zeit etwas gelassener zu nehmen.
Heimat bleibt Heimat, solange man sie bei sich trägt.
Text: Thomas Brandt