Über das Für und Wider des Fernsehkrimis streiten unsere Autoren Thomas Brandt und Christian Götz
Warum wir keine Krimis im Fernsehen brauchen; ein polemisch-philosophischer Debattenbeitrag.
Ein alter Kommissar blickt auf das Meer. Alles ist grau. Das Meer. Der Himmel. Der alte Kommissar. Ich schalte um. Ein etwas jüngerer Kommissar untersucht eine Leiche. Oder das, was davon übrig ist. Der Mörder hat sein Opfer mit Trüffelöl eingerieben und es von Wildschweinen zerfressen lassen. Ich breche kurz in meinen bereitgestellten Eimer – und schalte wieder um. Ein glatzköpfiger Kommissar mit gezwirbeltem Schnauzbart fragt einen Verdächtigen, wo dieser zur fraglichen Taaatzzzz … ich bin eingeschlafen, habe es aber währenddessen noch geschafft, umzuschalten. Ein depressiver Kommissar fährt auf einem Kahn durch den Spreewald. „Ah, das ist der tolle Spreewaldkrimi, von dem mein Bekannter mir ständig erzählt, der muss ziemlich spannend sein.“ Ich schlafe wieder ein und träume von Gurken. Als sich meine müden Augen wieder öffnen, ermittelt eine weibliche Kommissarin in einer Sache, in der es um VergewaltigungswirtschaftserbfolgeeifersuchtterrorismuswerhatmeinSchokopuddinggegessen geht. Ich hole mir einen Schokopudding aus dem Kühlschrank, rühre ein paar Spreewaldgurken unter, breche noch einmal beherzt in den Eimer – und gehe zu Bett.
Als ich am nächsten Morgen erwache und den Fernseher einschalte, ermittelt irgendjemand irgendwas und irgendjemand ist der Mörder. Oder vielleicht auch nicht. Oder vielleicht der Gärtner. Krise in der Ukraine, globale Erderwärmung, Terrorismus, Kursstürze an der Börse, veränderte Nutella-Rezeptur – angesichts solcher und anderer globaler Schieflagen frage ich mich, was zum Geier so viele Menschen an Krimis finden. Gefühlt besteht die Fernsehlandschaft heutzutage (an die Leser der Generation Z: Fernsehen, das ist wie YouTube, nur dass da wirklich jeder Depp reinkommt) ausschließlich aus Bares für Rares, Polit-Talks und eben Krimis. Die beiden ersteren Formate sind natürlich über alle Zweifel erhaben („Schgebdirachzischeurorettungsschirm“). Aber Krimis? Amerikanische Wissenschaftler haben jüngst herausgefunden: Wenn man die Hirnkapazität aller Krimi-Autoren der Welt in einem 100-Liter-Behälter sammeln würde, hätte man darin noch Platz für 100.000 Milliliter. Wenn Sie jetzt nachgerechnet haben, sind Sie eine schlimme Person und sehen sicher auch gern Krimis – vermutlich, weil Sie an das Schlechte im Menschen glauben. Oder, weil Sie den blutrünstigen Voyeurismus als eine Art Katharsis – also eine Reinigung – von heftigen Gefühlsregungen betrachten. Mord anschauen, damit man selbst nicht zum Mörder wird. Klingt im ersten Moment eigentlich logisch; doch demnach müssten Liebesfilm-Fans grundsätzlich verbitterte Singles sein – und Shades-of-Grey-Gucker überhaupt keinen Sex haben …
Okay, der Punkt geht an Euch, Sherlocks!
Aber auch, wenn die gerade ausgeführte Argumentation so wasserdicht ist wie das Alibi eines von oben bis unten blutverschmierten Verdächtigen, der mit dem Fleischermesser in der Hand beim Verhör auf der Polizeiwache zur Protokoll gibt, er sei lediglich ein zutiefst missverstandener Aktionskünstler, mag ich einfach nicht verstehen, wieso scheinbar die ganze Welt Krimis liebt. Wenn ein norwegischer Psychopath Jungfrauen ermordet, sie in Engelskostüme steckt und auf weiten Feldern in konzentrisch angeordneten Steinkreisen drapiert, von welchen sich zur Sommersonnenwende das Mondlicht in Form eines Pentagramms spiegelt, dabei der ermittelnde, alternde und von Selbstzweifeln zerfressene Inspektor 80 Minuten lang mit seiner eigenen Fehlbarkeit konfrontiert wird (Alkoholsucht Schrägstrich Spielsucht Schrägstrich Drogensucht Schrägstrich Sucht nach alten blassblauen Schwimmbadfliesen), nebenbei noch ein Verhältnis mit der deutlich jüngeren Pathologin beginnt, der Verdacht dann auf den Dorf-Autisten aus Smölebröd fällt, bevor sich innerhalb der letzten fünf Minuten herausstellt, dass alles eigentlich Selbstmord war … – dann, ja dann schlafe ich lieber wieder ein und träume von einer Welt ohne Krimis. (Nebenbei bemerkt: Wenn Sie wissen möchten, ob es im konkreten Fall doch kein Selbstmord war, dann schalten Sie einfach übermorgen um 22:30 Uhr den Fernseher ein; egal welcher Sender, egal welcher Krimi; irgendwo wird gerade immer eine Jungfrau in einem Engelskostüm in einem Steinkreis drapiert).
Zurück zu meinem Traum – dem Traum einer krimifreien Fernsehwelt. Einer Welt mit Serien wie SCHOKO Leipzig (die besten Kreationen sächsischer Schokoladenmanufakturen), Der Kommissionierer und das azurblaue Meer (Logistikreportagen aus der Karibik), Die Rosenheim Klopse (Bulettenrezepte aus Bayern), Sportkommission Istanbul (Porträt eines türkischen Fußalltrainers), Bootruf Hafenkante (Wir schauen einem Wassertaxi-Besitzer über die Schulter), Die Spreewald-Lilly (Heimatfilm) und natürlich: Die Brücke – Transit ins Li-La-Launeland …
Ich öffne die Augen. Der Fernseher ist eingeschaltet. Nelson Müller testet im Auftrag des ZDF, ob Türscharniere von IKEA genauso gut sind wie eingelegte Knoblauchzehen von Rewe. Wie bei einem schlimmen Unfall muss ich kurz zusehen, dann wünsche ich mir einen griesgrämigen alten Kommissar, einen schalldichten Raum im Keller einer Polizeistation – und einen bestimmten TV-Koch auf dem Verhörstuhl. Text: Thomas Brandt
Warum es lohnenswert ist, das Fernsehprogramm zu studieren, bevor man sich über Krimis echauffiert.
Ein Mann sitzt frühabends vor dem Fernseher. Er ist müde. Die Fernbedienung liegt schwer in seiner Hand. Dennoch gelingt es ihm, den Umschaltknopf zu drücken. Er landet bei einem Krimi, er drückt den Umschaltknopf – und landet bei einem Krimi. Ganz ohne Umschweife: In diesem Punkt sei dem Krimikritiker voll und ganz Recht gegeben. Das öffentlich-rechtliche Vorabendprogramm (Privatsender seien hier mal bewusst ausgeklammert, deren Welt ist ohnehin eine andere) strotzt nur so vor Leichen und ihren Kommissaren. Auch was das inhaltliche bzw. schauspielerische Niveau der SOKOS, Notrufe, Retter und Reviere anbelangt, wäre hier zeilenlanges Lamentieren reine Rohstoffverschwendung. Natürlich sind die schlecht – schließlich handelt es sich hier um fix abgedrehte Massenware, in der zum Großteil Schauspieler herumheroisieren, für die es sonst gerade mal bis zur Whiskas-Werbung gereicht hätte. Doch was bitte erwartet man in den „Kukident-Stunden“, die der Performer im Fitnesscenter, die Familie beim Abendessen und Teens oder Twens auf irgendwelchen Streamingkanälen verbringen? Film noir? Fassbender-Dokus? Und weiter gefragt – war es vorher besser? Ich erinnere mich düster an irgendwelche Marienhöfe, in denen nach einer dreiviertel Stunde die Liebe verboten war, Landärzte mit Zeitüberschuss und andere mediokre Machwerke. Von der Abfrage unnützen Wissens in irgendwelchen Quizformaten ganz zu schweigen. Da schau ich doch noch im Fall des Falles lieber irgendeinem C-Promi beim Sterben zu! Und für die kleinen netten Geschichten mit gutem Ausgang gibt es ja in der Tat Bares für Rares.
Doch kommen wir zur eigentlichen Kontroverse: dem Abendprogramm. Natürlich sei hier unumwunden eingestanden, dass das Genre Krimi dort eindeutig dominiert. Doch wie wäre es, der Sache mal ganz vorurteilsfrei auf den Grund zu gehen? In diesem Zusammenhang landen wir recht rasch bei der Hauptfunktion des Fernsehens – und die lautet nun einmal Unterhaltung. Dröselt man diesen Begriff in Hinblick auf das Fernsehpublikum auf, driften die damit verbundenen Erwartungen natürlich gewaltig auseinander. Der eine will vor allem Spaß und Humor, der andere bevorzugt gesellschaftliche bzw. politische Relevanz und Lebensnähe, der dritte wünscht sich schöne Bilder und Landschaften, der vierte liebt die Liebe, der fünfte die (Zeit-)Geschichte, der sechste Kunst und Kultur und der siebte die Spannung.
Die gute Nachricht für alle Krimiphobiker: Für jedes der genannten Partikularinteressen gibt es – allein im öffentlich-rechtlichen Programm – ausreichend Futter, die TV-Programm-App macht’s möglich. Der Spaß-Cowboy findet sein Fresserchen, je nach Bildungsgrad, in Formaten von Verstehen Sie Spaß? über diverse meist auch samstags ausgestrahlte Quizsendungen bis hin zu verschiedensten Kabarettformaten, ob heute-show, Anstalt, Nuhr oder vielfältigste Kleinkunst-Mitschnitte in den Dritten. Der zweite Kandidat hat wiederum die Qual der Wahl zwischen zig Politik- und Fachmagazinen, Talkshows, investigativen Reportagen oder – in Filmform – den oft sehr gelungenen Mittwochsfilmen im Ersten, die brisante Themen der Zeit in Gestalt eines mitreißenden Plots aufgreifen. Für die Bilder- und Liebesfans unter uns kuriert der Bergdoktor vor hinreißender Kulisse unterforderte Ehefrauen und Gwyneth findet im nicht minder hübschen Cornwall dank Roselmunde Pichler (Gott hab sie selig!) doch noch zu ihrem Paul, mit dem sie das verschuldete Landgut vor dem garstigen Immobilienspekulanten Cedric rettet (der aber zum Schluss auch einsieht, dass er sein Leben ändern muss). Dass die (Zeit-)Geschichtsfans unter uns sehr wohl zu ihrem Recht kommen, zeigen unzählige Filme und Serien – von Babylon Berlin über Luther und Co. bis zur schier endlosen Palette an Nachkriegsdramen oder Biopics. Ach so, da wären noch die Kunst- und Kulturbeflissenen – na dann, nichts wie ab nach arte- oder 3sat-Hausen, hier ist vom Nirvana-Konzert bis zu Theater- und Opernaufführungen alles in Fülle vorhanden, was das Bildungsbürgerherz begehrt. Auf den Spannungsfreund brauche ich hier natürlich nicht näher einzugehen – dass es ihm an nichts mangelt, wurde bereits hinreichend geklärt.
Was jedoch noch geklärt werden sollte, ist Folgendes: Gibt es da eventuell einen gewissen Treffpunkt, an dem man alle eben Beschriebenen auf einer Couch versammeln könnte? Hmm, wie könnte dieser Treffpunkt heißen? Vielleicht wie ein Filmformat, in das sich letztlich sämtliche Partikularinteressen mühelos integrieren lassen, Spannungsbogen stets inklusive? Gehen wir’s nochmal durch: sei es die Krimikomödie à la Tatort Münster oder Wilsberg mit pointierten Dialogen, seien es gesellschaftskritische Thriller, Eifersuchtsdramen, die exzellent gemachte Landkrimi-Reihe aus Österreich, Krimis rund um die jüngere Geschichte der BRD bzw. der DDR, Kriminalfilme mehrfach ausgezeichneter Regisseure (von Dominik Graf bis Hans Steinbichler) oder Drehbuchautoren wie Thomas Kirchner (aus dessen Feder unter anderem verschiedene Spreewaldkrimis stammen, die in Rückblenden bzw. verschiedenen Wahrnehmungsebenen erzählt werden): Ich denke, es ist kein Zufall, dass ich mich montagmorgens mindestens so gut mit dem Gasableser über den Tatort des Vorabends streiten konnte wie mit meinem Professor (sic!). Dass sich beim Konsumieren solcher Geschichten gern mal eine gewisse kathartische Wirkung einstellt – geschenkt. Schließlich fühlt sich Letztere auch für potenzielle Nichtmörder gut an, daran hat sich seit Aristoteles wenig geändert; indes suchen die Liebesfilm-, Science-Fiction-, Shades-of-Grey- und sogar Helene-Fischer-Fans in der Regel mitnichten nach Katharsismomenten. Vielmehr flüchten sie sich – was nur allzu verständlich ist – für ein paar Stunden in Gegenwelten zu ihrem leidlich-normgerechten Arbeits- und Beziehungseinerlei bzw. der ermüdenden Blümchensexwelt im IKEA-Boxspringbett, getestet von Nelson Müller. Für die Katharsis sorgen dann meist zuverlässig Faschings-, Junggesellenabschieds- oder Après-Ski-Besäufnisse (vielleicht gibt es doch noch viel zu wenige Krimis?!).
Selbstverständlich tummeln sich im breiten Spektrum der Kriminalverfilmungen auch jede Menge Flachmänner und -damen herum, natürlich finden wir auch hier billig zusammengeschusterte Massenware, deren geografische Reichweite von Istanbul über Gotland bis in Barnabys totgemordetes Oxfordshire reicht. Doch auch dafür gibt es, wie bei jedem anderen Genre auch, eine relativ simple Lösung: den kritischen Blick ins Programm bzw. diverse Bewertungsportale. Auf gut Glück zappen führte schon in krimiärmeren Zeiten ins Nirvana – es sei denn, man landete bei den Nachrichten. Aber das ist eine andere, fiktionsfreie (Kriminal-)Geschichte … Text: Christian Götz