Einfach mal ein halbes Jahr mit der Wanderuni durchs Land ziehen
Ich muss mal raus … einfach mal an die frische Luft, dem Trott entflieh’n … ’nen klaren Kopf bekommen und niemanden sehn’: Alles Sätze, die Manoel Eisenbacher so definitiv nie gesagt hat. Als der heute 28-Jährige 2016 das erste Mal von der Wanderuni hörte, verspürte er vielmehr latente Beklemmung als den nach Freiheit dürstenden Impuls der Stadtflucht. Im Gegenteil: Die Idee, ein knappes halbes Jahr in deutschen Landen unterwegs zu sein, ohne einen festen Tagesablauf geschweige denn einen festen Schlafplatz, hätte dem gelernten Winzer und Fotografen nicht mehr Unwohlsein bereiten können, wie er uns erzählt. „Tatsächlich bin ich eher ein strukturierter Typ und brauche immer eine gewisse Vorhersehbarkeit, um mich safe zu fühlen.“ Rückblickend lässt sich daher nicht mehr sagen, welcher Teufel Manoel geritten haben muss, zwei Jahre später seine Komfortzone im beschaulichen Würzburg zu verlassen … Neugierde könnte es gewesen sein, die ihn zum ersten Infotreffen der Wanderuni im November 2017 trieb, oder – und das ist wahrscheinlicher – die ansteckende Begeisterung einer kleinen, aber wachsenden Bewegung, die sich seit 2015 für freiere Bildungswege abseits des Unikosmos einsetzt.
Wir sind dann mal weg …
Das Konzept ist jedenfalls schnell erklärt: Herzstück der Wanderuni sind die sogenannten StudienGänge, bei denen Gruppen von zumeist jungen Menschen im Rahmen einer halbjährigen Wanderschaft ihren ganz eigenen Fragen folgen. Ins Leben rief die alternative Bewegung Manoels Kumpel Emil, der sich lange Zeit in der Schülerbewegung Funkenflug für soziale Bildung einsetzte und im Zuge dessen wiederholt Kundgebungen in Berlin besuchte. Eines Tages wurde aus dem Trip in die Hauptstadt schließlich eine Wanderschaft durch ganz Deutschland, der sich im Laufe der Jahre immer mehr Gleichgesinnte anschließen sollten – der Rest ist Geschichte. In Anlehnung ans „normale“ Unistudium verstehen sich die StudienGänge dabei als Einführungs- beziehungsweise Orientierungssemester für alle, die ihren individuellen Bildungsweg als kontinuierlichen, selbstbestimmten Lernprozess verstehen. Learning by walking eben – oder, wie uns Manoel erklärt: „Der Weg zum für mich Wesentlichen.“
NEUE ORTE, ANDERE PERSPEKTIVEN UND VIEL ZEIT ZUM LEBEN
Plan mit Fotofinish
Dass ein solcher Weg freilich nicht selten mit Herausforderungen beginnt, wurde dem Wanderer in spe spätestens dann klar, als er sich dazu entschloss, die Wanderschaft mit einem Fotoprojekt zu begleiten. Ein Tag, ein Foto – mehr Optionen wollte er sich nicht einräumen, um die perfekte Momentaufnahme des jeweiligen Tages einzufangen. Dabei überwand der selbsternannte Perfektionist gleich die zweite innerliche Hürde: „Schließlich konnte ich nie wissen, ob der nächste Moment vielleicht noch perfekter sein würde.“ Und so begab sich Manoel – jede Menge aufgeregte Vorfreude, eine Leicaflex SL2-Analogkamera und nur die nötigsten Kleidungs- und Pflegeutensilien im Gepäck – auf eine Reise ins denkbar Ungewisse. Die erste Station: das Zusammentreffen mit seinen „Mitläufern“. Schließlich standen sich im April 2018 in Schwäbisch Gmünd 15 wenig vertraute Menschen gegenüber, die fortan gemeinsam wandern, trampen und ihren jeweils gesteckten Zielen näherkommen wollten. Aber ist das nicht ein Widerspruch in sich: Selbstreflexion im Rudel? Manoel lacht: „Ich bin ehrlich: Genau das Gleiche habe ich auch gedacht.“ Doch entgegen aller Befürchtungen sollte nicht nur Manoel nach etwas mehr Intimsphäre sein … „Auch meine Kommilitonen wollten ursprünglich in kleineren Gruppen aufbrechen. Schließlich konnten wir uns in der Vorbereitung auf nicht mehr als acht Personen pro Team einigen – das war schon das absolute Maximum des Erträglichen“, wie er lachend hinzufügt. Tatsächlich gelang es den 15 Wander-Erstis jedoch nicht, sich entsprechend aufzuteilen, „jede Konstellation fühlte sich irgendwie forciert an.“ Und so legte man den ursprünglichen Plan doch ad acta und machte sich zu fünfzehnt auf den Weg – mögliche Absplitterung oder Trennungen würden sich schließlich bestimmt noch ergeben, spätestens wenn man sich doch mal in die Haare bekommen sollte …
Die Route verlief von Schwäbisch Gmünd Richtung Schwarzwald nach Waldkirch; dann von Freiburg ins Allgäu; von Vorpommern nach Usedom und wieder zurück nach Vorpommern; daraufhin ging es über Brandenburg nach Halle (Halbzeit), dann in den Harz, die Toskana und schließlich an die Mainschleife; im Anschluss folgten Stopps in Leipzig, Witten und dem Allgäu; von dort ging’s zurück nach Erfurt, über den Hunsrück an die Mosel bis zur letzten Etappe – zurück nach Schwäbisch Gmünd.
Einmal vegan und bio to go, bitte!
Nach dem Startfest in Schwäbisch Gmünd ging es also endlich los. Die Route führte über den Schwarzwald Richtung Freiburg, dann am Feldberg vorbei bis nach Hinterzarten und weiter ins Allgäu, wo zunächst im Rahmen eines befreundeten Projekts eine Bauwoche in einem ehemaligen Klinikgebäude anstand – eine der wenigen festen Behausungen seit Beginn der Wanderschaft. Geschlafen wurde sonst nämlich vorwiegend unter freiem Himmel:
in Wäldern, auf Feldern oder aber bei Privatleuten im Garten. Manoel erinnert sich: „Das war schon ein komisches Gefühl, das Schlaf-Tarp wieder gegen ein echtes Dach über dem Kopf einzutauschen.“ Doch der häusliche Luxus sollte nicht lang anhalten: Schon nach zwei Wochen ging es mit Sack und Pack weiter nach Vorpommern – zum Humus-Festival. Bis dahin waren bereits 1.500 Kilometer zu Fuß und per Anhalter zurückgelegt und das Foodsharing-Konzept der Veranstaltung kam den „Gefährten“, wie Manoel seine Mitstreiter mittlerweile in Anlehnung an Herr der Ringe nannte, gerade recht. „Als mehr oder minder konsequente Selbstversorger waren wir nämlich von Anfang an darauf bestrebt, möglichst von dem zu leben, was uns die Natur schenkt.“ Egal, ob Bärlauch, Wildsalat, Brombeeren oder Zwetschgen – die inoffiziellen Küchenbeauftragten zauberten auf dem mitgeführten Gaskocher so manches erinnerungswürdige Abendmahl. Was nicht gefunden werden konnte, wurde entweder containert oder aber preisgünstig gekauft: „Mehr als 2,50 bis 2,80 Euro pro Tag und Kopf haben wir jedoch selten ausgegeben.“ Dass die Beute der Truppe zumeist vegan ausfiel, hatte dabei nicht nur finanzielle Gründe: „Auch im normalen Alltag leben die meisten von uns vegetarisch oder vegan.“
VON DER SEHNSUCHT NACH EINEM LEBEN ABSEITES DER NORMALEN WEGE
Reise zum Mittelpunkt der Herde
Wer jetzt denkt „Alle öko oder was?“, dem sei gesagt: Ja. Alle öko. Oder zumindest extrem nachhaltig unterwegs – und das im Wortsinne, wie uns Manoel weiter erklärt: „Man kann schon sagen, dass dieses nachhaltige Handeln unser gemeinsamer Nenner war. In vollem Bewusstsein für unsere Verantwortung als Einzelne haben wir immer versucht, im bestmöglichen Interesse aller zu handeln.“ Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass hier 15 Persönlichkeiten aufeinandertreffen, die noch dazu allesamt ihren ganz eigenen Launen und alltäglichen Stimmungsschwankungen unterliegen. Manoel muss lachen, als er sich an die ersten Wochen der gemeinsamen Wanderschaft erinnert: „Jetzt stell dir mal vor, du stehst zu fünfzehnt auf, machst dich bereit für den Tag, einigst dich auf eine Route und läufst zusammen im Tempo des Langsamsten los – da ist es Abend, bevor du mehr als 3 Kilometer zurückgelegt hast.“ Doch die anfänglichen Startschwierigkeiten sollten schnell überwunden sein: Mithilfe kleiner Rituale wie gemeinsamen Morgen- und Abendrunden – und unter Einsatz eines Redestabs – konnte das emotionale Gleichgewicht der Gruppe immer wieder neu ausbalanciert und der Grundstein für Interessengemeinschaften gebildet werden.
Von Mitläufern und Einzelkämpfern
Und so brauchte es auch keinen offiziellen Entscheider, der den Gruppenmitgliedern ihre Rollen zuwies: „Das hat sich tatsächlich von ganz alleine ergeben“, sagt Manoel. Während sich einer gut aufs Kartenlesen verstand, übernahmen andere nur allzu gerne das Kochen oder den Aufbau des jeweiligen Nachtlagers. Manoels Aufgaben bestanden wiederum vor allem in der Routenplanung und der Koordination zwischen Veranstaltern und interessierten Wanderkollegen: „Wobei wir immer Wert darauf legten, dass jeder mal zu Wort kam.“ Wie gut das auch ohne gesprochene Worte geht, sollte Manoel schließlich auf Usedom erfahren: „Klar, dass ausgerechnet an meinem Schweigetag eine Diskussion bezüglich unserer Einkaufsgewohnheiten aufkommen musste … Aber auch das war kein Problem: Ich habe mich selbst mit Händen und Füßen perfekt einbringen können.“ Kommunikationsschwierigkeiten gab es daher auch keine, als Manoel und die Gruppe nach einem weiteren Zwischenstopp in der Lebensgemeinschaft Klein Jasedow in Halle zum Halbzeittreffen zusammenkamen. Der Würzburger kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen: „Auch wenn wir uns eigentlich viel früher aufteilen wollten, haben wir es hier endlich geschafft, mehrere Gruppen zu bilden.“ Während die „Harz 5“ nach der Mitlaufwoche mit Freunden, Partnern und Co. – nomen est omen – im Harz verblieben, verschlug es die restlichen Wanderer gen Süden. Gemeinsam mit Kommilitonin Alia verbrachte Manoel so eine Woche bei einem Gestalttherapeuten in der Toskana. Doch was sich nach jeder Menge Seelenstriptease anhört, sollte tatsächlich eher körperlich ertüchtigend sein – Voraussetzung für Kost, Logis und Gestaltarbeit war nämlich das Bestellen des mehrere Hektar großen Olivenhains. Da bekommt ora et labora eine völlig neue Bedeutung, oder? Manoel gibt sich diplomatisch: „Das war schon herausfordernd, ja. Wobei ich gestehen muss: Meine schwierigste Prüfung hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon hinter mir.“
Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen …
Da ist sie wieder, diese tiefgründige Ernsthaftigkeit, die sich schon zu Beginn des Gesprächs mit Manoel bemerkbar machte. Fast hat man das Gefühl, als säße man einem Pilger gegenüber – vielleicht sind da Ähnlichkeiten mit Hape Kerkelings legendärer Begehung des Jakobswegs doch gar nicht so weit hergeholt? Manoel nimmt einen Schluck Wein: „Oh Mann, das ist jetzt schon persönlich … Aber wir sind ja nicht nur zum Spaß hier, oder?“ Eine Fangfrage, schließlich betreiben wir bei aller Rücksichtnahme extrem investigativen Journalismus. Und so teilt Manoel – unserer Hartnäckigkeit und dem zungenlockernden sei Dank – doch noch seinen intimsten Reisemoment mit uns: die eigentliche Reise zu sich selbst. „Da gab es einen Tag im Harz, der war wirklich ganz düster. Mir ging so wahnsinnig viel durch den Kopf: Auf der einen Seite bestand die Option, Internationale Beziehungen in Dresden zu studieren. Zugleich kam in mir jedoch die Frage auf, ob das wirklich die eine Tätigkeit ist, der ich mein Leben widmen möchte. Und dann war da auch noch mein geheimer Herzenswunsch: die Fotografie. Aber irgendwie fühlte sich nichts davon rund an … Es war, als hinge ich in der Luft, als hätte ich gar kein Glücksgefühl mehr in mir …“
DIE REISE ZU SICH SELBST
Und so machte sich Manoel an diesem sonnigen Sommertag dazu auf, eben jenes Glück zu finden – ganz getreu dem vielzitierten Motto „der Weg ist das Ziel“: „Ich habe die ganze Truppe einfach hinter mir gelassen und bin losgelaufen. Zwei Stunden am Stück – und das ohne zu wissen, wohin mich der Weg trägt.“ Der erste Stopp: Ein kleiner Dorfladen, in dem sich Manoel sage und schreibe 400 Gramm Schokolade kaufte. „Das war das Einzige, worauf ich Lust hatte.“ Mitsamt der Beute ging es schließlich weiter in einen benachbarten Park auf die erstbeste Bank – und dort brach schließlich alles aus Manoel raus: „Ich saß da wie Forrest Gump, die Schokolade in einer Hand, meinen Wanderstock in der anderen und konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen.“ Als hätte alles in ihm nur darauf gewartet, sich endlich zu entladen, sollte dieser Nachmittag zum großen Wendepunkt seiner Wanderung werden – auf einmal war nämlich alles glasklar: „All die Verwirrung und all die Optionen, für die ich nicht wirklich brannte, lösten sich vor meinem inneren Auge auf. Ich wusste, was ich schon die ganze Zeit wollte – nämlich den Spirit der Wanderuni weiterleben.“
Aufbrechen, ankommen – repeat
Und wie es manchmal der Zufall und das Leben so wollen, sollte sich die perfekte Gelegenheit dazu schon bald bieten: Nur einen Monat später ging es nämlich nochmal zurück ins Allgäu, wo die Gruppe wenige Monate zuvor erstmals das Projekt „Hausausbau“ anstieß. „Plötzlich stand sich der harte Kern gegenüber und stellte die Frage in den Raum: Warum nicht einfach hierher ziehen und weiterbauen?“ Die Chance schlechthin für Manoel, endlich als Fotograf in die Selbstständigkeit zu starten und sich in einem Pool aus Gleichgesinnten kreativ auszutoben – „ihr könnt euch vorstellen, dass die Entscheidung entsprechend schnell gefallen war“. Unnötig zu sagen, dass die letzten Wochen des StudienGangs unter einem sehr glücklichen Stern standen, schließlich hatte Manoel seinen inneren „Mount Everest“ bereits erklommen. Und so teilt er am Ende noch eine weniger erhellende aber vielmehr erheiternde Erinnerung mit uns: der Waschtag im Badeland von Hansgrohe. Wer jetzt denkt „nur ein Waschtag?“, dem sei vorab versichert, dass die Mädels und Jungs sich trotz zumeist fehlender Duschmöglichkeit stets einer gebührenden Körperhygiene widmeten, „wobei manchmal nicht mehr als eine Katzenwäsche im Fluß drin war“, wie Manoel zugibt. Umso größer die Freude, als er nach Wochen des Wanderns in der Tourist Information des beschaulichen Städtchens Schiltach die alles andere als beschauliche Touristenattraktion empfohlen bekam: Auf rund 100 Quadratmetern können Besucher in der Showerworld nämlich eine Stunde lang die Produkte der Firma testen, probeduschen – oder eben Wäsche waschen. Manoel lacht: „Wir wollten die knappe Zeit eben perfekt nutzen; und so wurden die Regenduschen kurzerhand zur Waschmaschine umfunktioniert.“ Doch obgleich hier der Grundsatz „Not macht erfinderisch“ gegolten haben dürfte, möchte Manoel klarstellen, dass es ihm zu keinem Zeitpunkt an etwas fehlte – im Gegenteil: „Festzustellen, mit wie wenig ich klarkomme und dass ich den ganzen Luxus für ein glückliches Leben nicht brauche, war unglaublich befreiend. Ein großartiges Gefühl, das ich jedem wirklich nur wünschen kann.“ Auch wenn er die Wanderuni selbst als einmalige Erfahrung verbucht, sieht er seinen weiteren Lebensweg deshalb vielmehr als ein Weiterlaufen – mögliche Umwege überaus willkommen: „Der perfekte Moment besteht schließlich aus dem, was man daraus macht.“
Verweile doch, du bist so schön: Mit seinen analogen Fotos ist es Manoel gelungen, die Vergänglichkeit des Moments einzufangen.
Text: Anna-Lucia Mensing,
Fotos: Manoel Eisenbacher / www.manofaktur.com