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Aus Zeit

Jeder braucht sie einmal, irgendwann einmal. Nicht jeder nimmt sie sich, nicht jeder kann sie sich nehmen. Dabei erwischt sie nicht nur Menschen oder Tiere, sondern manchmal auch Maschinen, die Auszeit.

Menschen sprechen von Urlaub oder Reha, wenige reden von Therapie. Tiere verpuppen sich, bevor es weitergeht oder schlafen ganze Jahreszeiten durch und für Maschinen bleibt meist nur der Defekt. Während manche Radiosender noch ihre Sendepause pflegen, wurde im Fernsehen das letzte Testbild Ende der Neunziger ausgestrahlt und seither herrscht der Dauerbetrieb. Klar, spät nachts laufen Wiederholungen oder Werbesendungen ohne nennenswerten Unterschied zu Testbildern, dennoch pausenartig. Und das Internet? Hat keine Pause, braucht keine und darf auf keine haben, ist immer an.

Immer und überall abrufbar, zu jeder Tages- und Nachtzeit und an fast allen Orten der Erde. Von den Downtimes einmal abgesehen, also Zeiten, in denen mobile und stationäre Internetzugänge keinen Datendurchsatz liefern. Diese, wenn auch seltenen Vorkommnisse, verursachen umgekehrt proportional zu ihrer Häufigkeit enorme Emotionsspitzen. Skandalträchtig befeuert durch Meldungen, dass das Internet zu dieser und jener Zeit und an diesem und jenem Ort für X-Minuten nicht zu erreichen war. Solch stark einheitliche Emotionen birgt sonst nur die Übertragungsunterbrechung einer Fußball-WM, der Männer, versteht sich.

Das Internet hat demnach keine Auszeit und es hat auch kein Recht darauf. Und wenn es ein Anrecht hätte, dann gingen wir alle, dann ginge die Menschheit vor die Hunde, denn wenn Youtube, Spotify, Instagram und Twitter nicht jederzeit erreichbar sind, dann passiert wahrscheinlich…nichts. Zumindest nicht zwangsläufig etwas Fürchterliches. Mal abgesehen davon, wie es zu so einem Ausfall gekommen sein könnte, was würde denn wirklich passieren wenn das Internet sich eine Auszeit nimmt?

Zunächst einmal, kann man nichts mehr googlen und keine Straßenkarten mehr aufrufen, man kann auch keine Routen mehr berechnen lassen und auch nicht mehr nachschauen, wann der Bus fährt. Man kann auch nicht mehr online-shoppen, parallel hunderte Anbieter nach dem billigsten Angebot durchforsten oder den Tankstellen-Liveticker für lokale Spritschnäppchen verfolgen. Keine E-Mails mehr, keine Skype-Konferenzen und auch keine Chats oder Benachrichtigungen mehr. Keine Bilder von Freunden und Freundesfreunden, keine Likes und keine Empfehlungen mehr, was man lesen oder besser noch kaufen soll. Die Liste wird länger und länger und auf ihrem Rücken sitzt die Zeit, emotionslos und ermattet.

Ja, aber will man, will denn irgendjemand darauf verzichten? So oder so ähnlich schallt einem meist die erste oder lauteste Frage entgegen. Wahrheitsgemäß: Nein. Oder vielleicht doch, egal wie man antwortet, in diesem Fall lohnt der Blick zurück.

Straßenkarten gibt es noch immer in gedruckter Form, Busfahrpläne und Kochrezepte auch und zum Reisen existieren einige, sehr sehr wenige Reisebüros. Das Wetter gibt´s im Radio oder Fernsehen und sogar Zeitungen werden noch gedruckt. Ein Leben ohne Internet scheint immer noch möglich, wenn auch in manchen Bereichen umständlicher aber dennoch möglich. Vielleicht auch in manchen Situationen zeitraubender, doch fallen auf der Schuldenseite viele kleine Zeitfresser-Apps weg und schon wird die Bilanz undurchsichtiger. Tickets müssten wieder ausgedruckt werden und für Druckerpatronen müsste man wieder in einen Laden anstatt sich auf den hageren Paketboten zu verlassen. Der sieht sowieso in letzter Zeit immer schlechter aus, wahrscheinlich familiäre Probleme oder Alkohol. Man kennt das ja.

Für den Video-Abend müsste man in die Videothek oder gleich ins Kino und für neue Musik müsste man in den Musikladen, sich CDs raussuchen und, wenn man sie nicht alle gleich kaufen will, auch noch Probehören. Das Leben würde wieder analoger werden und wahrscheinlich müsste man sich sogar physisch ab und an mit Freunden treffen um nicht gänzlich zu vereinsamen – analog zu vereinsamen. Ganz ohne Like-Button oder Kommentarfunktion (dem inoffiziellen Dislike-Button), dafür aber mit Gerüchen und Stimmungen und allem Drumherum.

Ebenso, wie man heute an einem halben Tag um die halbe Welt reisen kann, und ebenso, wie heute jeder Ton eines Liedes irgendwann online abrufbar ist, so bezahlt auch jeder von uns einen Preis für dieser übervolle Wundertüte der Möglichkeiten. Alles im Leben hat seinen Preis, floskelt es sich so schön, und der Preis für das Internet lautet: Bewusstsein.

Man kann dem Internet eine Pause schenken, indem man offline geht oder sich den Neuerungen entsagt. Smartphone und mobile Daten, Streamingdienste und Social Media, all das kann man ohne Weiteres vermeiden. Man kann aber auch den Spieß umdrehen. Es finden sich Seiten im Netz, da wirkt es so, als seien die Rollen vertauscht und nicht mehr eindeutig klar, wer hier aktiv ist und wer jetzt pausiert.

Es gibt einige testbildartige Angebote, die meist grafisch einen Verlauf darstellen. Es gibt eine Echtzeitanzeige der meist gegoogelten Begriffe, nach Ländern sortiert und in Form eines Globus. Es gibt eine Anzeige für Blitzeinschläge, ebenfalls global und es gibt Darstellungen über die Gesamtpopulation der Erde, mit Geburten- und Sterberate, den Wasserverbrauch, den Verlust an Wald und die Zahl an Menschen, die jeden Tag an Hunger sterben. Es gibt Visualisierungen darüber, wie viele Bäume täglich gerodet und gepflanzt werden und wieviel Tonnen Plastik aus Meeren und Flüssen geborgen werden gegenüber den Tonnen, die wir den Gewässern zuführen. Viele Zahlen, viele Informationen für wenig Zeit, aber jeder kann selbst bilanzieren. Jeder kann sein eigenes Testbild wählen und womöglich zahlt dann das Internet die Zeche. Egal, wie die Bilanz für den Betrachter ausfällt, Bewusstsein muss nicht immer verloren gehen.

Es gibt auch Seiten, auf denen nie ganz klar ist, wer Rechnungen stellt und Preise bezahlt. Oftmals sind das Seiten, die Konsum sekundär behandeln oder ganz außen vor lassen. Manche wollen informieren oder eine Erinnerung bewahren. Die Homepage des Voyager-Projekts der NASA ist so ein Ort. Dort gibt es Spalten und Zahlen, und ein paar wenige Bilder. Viele der Zahlen ändern sich unablässig, allen voran die Entfernung zur Erde und zur Sonne, die Geschwindigkeit und die Dauer für die einfache Übertragung eines Signals zu den Sonden. Zusätzlich gibt es sehr einfach gehaltene ON/OFF Schaltflächen für Messinstrumente, bei denen sich nur sehr selten etwas ändert, und wenn dann nur in eine Richtung: OFF. Energie ist die wichtigste Ressource an Bord geworden und die Forscher schalten immer mehr Instrumente ab, um möglichst lange zu kommunizieren. Wenig spektakulär auf den ersten Blick, doch hinter den Zahlen entstehen Fragezeichen, hinter dem Wunsch nach Kommunikation entsteht etwas Größeres, etwas Übergeordnetes. Lässt man sich darauf ein, beginnt die Auszeit…

Im August 1977 haben die Menschen diese Sonden auf die Reise geschickt. Auf dem Weg aus unserem Sonnensystem, wurden Planeten untersucht, Messungen absolviert und Bilder zur Erde geschickt. Die Ingenieure steuerten die Sonden so, dass diese die Gravitation der Planeten ausnutzten und Schwung holen konnten, um den weitaus längeren Teil der Reise zu beginnen. Seit 1981 befinden sie sich nun auf unterschiedlichen Kursen, die eine vorbei an Uranus und Neptun, die andere auf direktem Weg hinaus aus unserem System. Voyager 1 hat 2012 und Voyager 2 im Jahr 2018 dieses Ziel erreicht, den interstellaren Raum. Jetzt sind sie wieder vereint, wenn auch unvorstellbar weit voneinander entfernt. Sie sind, die am weitesten entfernten Objekte, die von Menschenhand gefertigt wurden und jede Stunde werden es 60.000 km mehr. Irgendwann soll sie dieser Kurs und diese Geschwindigkeit zumindest in die Nähe anderer Sterne bringen.

Wenn man davor sitzt, ist es nichts anderes als ein Gedankenmodell und viel zu abstrakt um es zu greifen und doch, tragen diese Sonden nichts weniger als die Ideen und Hoffnungen der Menschheit bei sich. Sie sind unsere Botschafter. Sie sind die Delegation ohne Widerkehr und sie sollen Kontakt aufnehmen – mit wem oder was auch immer. Die Messinstrumente funktionieren nur noch wenige Jahre, die Kommunikation vielleicht noch bis 2036. Den eingeschlagenen Kurs werden sie ohnehin weiter verfolgen, womöglich abgelenkt, womöglich zerschellt auch eine Sonde an einem anderen Objekt im All. Theoretisch aber, fliegen diese Sonden noch Jahrtausende durch die Galaxie, und wenn die eine 40.000 und die andere 296.000 Jahre geflogen sind, erreichen sie im entferntesten Sinne andere Sternensysteme.

Kommunikation mit der Erde ist dann unmöglich aber sie tragen Informationen bei sich, auf vergoldeten Kupferplatten. Herzklopfen, Vogelgezwitscher und Meeresrauschen bringen sie mit, zusammen mit Grußbotschaften und einer Positionsangabe der Erde. Menschengemachte Musik, von Beethoven über Mozart bis hin zu Chuck Berry. Zehntausende Jahre könnte es dauern, bis die Nachricht übermittelt wird oder niemals. Es könnte der erste Funke einer Kommunikation sein oder ihr letztes Glimmen.

Der damalige US-Präsident Jimmy Carter durfte als einer der wenigen, eine persönliche Grußbotschaft mitschicken. Seine Zeilen stammen aus einer anderen Zeit, vielleicht sogar aus einer anderen Epoche der Menschheit und dennoch wirken seine Worte aktueller denn je: “This is a present from a small distant world, a token of our sounds, our science, our images, our music, our thoughts and our feelings. We are attempting to survive our time so we may live into yours.” *)

An einem schlechten Tag, fragt man sich, wann und nicht ob die Erde sich eine Auszeit nimmt…an einem guten Tag haben wir immerhin schon 42 Jahre geschafft.

*) „Dies ist ein Geschenk einer kleinen, weit entfernten Welt, eine Probe unserer Klänge, unserer Wissenschaft, unserer Bilder, unserer Musik, unserer Gedanken und unserer Gefühle. Wir versuchen, unser Zeitalter zu überleben, um so bis in Eure Zeit hinein leben zu dürfen.“

Text: Michel Mayr; schnurrzpiep.de