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Eine gute Erklärung

Hannah ist 39 und sie hat keine Kinder. Schlimmer noch, sie ist Single.

 

Das war keine bewusste Entscheidung, es ist einfach so
passiert. Es ist noch kein Mann aufgetaucht, dessen Gesicht Hannah gerne in winzig klein doppelt gesehen hätte – vielleicht mit ihren grünen Augen und den blonden Locken ihres Mannes. Hannah mag Männer mit blonden Locken.

Aber ihre letzte Beziehung ist drei Jahre her und sie hat gelernt, alleine zu sein. Sie ist sogar gerne alleine. Es geht ihr gut. Zumindest dann, wenn sie niemanden erzählen muss, dass sie 39 ist und keine Kinder hat und Single ist. Dann kommt sie in Erklärungsnot. Hannah könnte auch Hanan heißen oder Hang oder Haily. Die Reaktionen wären ähnlich. Aber das bringt Hannah wenig, denn sie ist Hannah und weiß nicht, dass es woanders auf der Welt eine Hanan gibt und eine Hang und eine Haily, die auch alle 39 sind, keine Kinder haben und Single sind. In Hannahs Welt ist sie die Einzige.
Sie ist diejenige, die vor Hochzeiten den Extra-Anruf bekommt, um gefragt zu werden, wo sie sitzen möchte: Neben dem 54-jährigen Junggesellen oder lieber am Kindertisch? Sie ist diejenige, die im Büro kurz vor ihrem Urlaub mit einem mitleidigen Blick gefragt wird: „Und? Was machst du so?“ Als müsste sie sich jetzt zwei Wochen zu Tode langweilen, weil sie niemanden hat, der an ihren Brüsten saugt und die Wohnung für sie verwüstet – auch keine Kinder. Hannah ist diejenige, die seit sie 25 ist auf jedem verdammten Familienfest von Onkel Albert gefragt wird, wie es denn mit der Familienplanung aussehe. Als wäre das eine öffentliche Diskussion, die von der Familie schon alleine aus Gründen des Stammbaumkonzepts gemeinsam besprochen werden müsste. Oma Christa sitzt dann meist daneben und scheint innerlich Probezeichnungen für Hannahs Stammbaumast zu machen. Und der ist verdammt dünn und hat gar keine Blätter. Hannah kann gut mit sich sein, sie liebt Gitarren-lastige Musik, schwärmt für Rockkonzerte und Rocksänger mit blonden Locken, sie kauft gerne duftende Badezusätze und sie mag es, am Sonntagmorgen mit ihrer besten Freundin Tessa zu telefonieren – während diese mit dem MaxiCosi durch ihre Vorstadtsiedlung joggt und Hannah in der Wanne Blubberblasen zerplatzen lässt. Sie kann gut zuhören, gut sich selbst reflektieren und Hannah ist sehr gut darin, die Dinge realistisch zu sehen. Weder zu schwarz, noch zu strahlend. Manchmal glaubt sie daran, dass die Liebe ihres Lebens noch auf sie wartet und manchmal auch nicht. Meistens aber ist sie sehr gut darin, selbst die Liebe ihres Lebens zu sein. Nur eines kann Hannah nicht: Sie kann es nicht ertragen, noch ein einziges weiteres Mal die Antwort darauf zu hören, wenn sie sagt „Nein, ich habe keine Kinder. Ich lebe alleine.“

Deshalb hat Hannah eine neue Strategie entwickelt: Immer, wenn jemand sie darauf anspricht, antwortet Hannah mit einer Phantasie, wie es sein könnte. Sie baut ihren eigenen kleinen kreativen Lebensentwurf. Als wieder eine ihrer Freundinnen, Maja, geheiratet hat, fing das an. Hannah hatte die Einladung mit den rosa Herzchen und den weißen Tauben schon zwei Wochen vorher bekommen. Sie hatte Zeit sich vorzubereiten. Als dann eines Samstagnachmittags das Telefon klingelte, war Hannah bereit: „Süße, ich rufe auch an wegen der Sitzplanung …“, murmelte Maja am anderen Ende der Leitung in den Hörer und Hannah hätte am liebsten gerufen „Ich weiß!“. Sie musste schlucken. Kleine Tränchen wollten ihr in die Augenwinkel treten – schwarze kleine Tränchen, die eine gehörige Portion Wut über die Fantasielosigkeit und die Intoleranz der Leute beinhalteten. Warum war man als Frau auch noch anderen Frauen eine Antwort schuldig, warum man niemanden abbekommen hatte? Warum musste sie Maja jetzt Schwierigkeiten bei der Sitzplanung bereiten – hätte sie nicht einfach mit irgendwem zusammen bleiben können, zumindest für alle künftigen Hochzeiten? Doch statt zu weinen, legte sich plötzlich Entschlossenheit in Hannahs Blick und sie hörte sich die Frage Kindertisch oder lieber neben dem anderen Single der Veranstaltung (71, aber „ein ganz lieber Opi meines Mannes“) in Ruhe an.

Dann räusperte sie sich kurz und antwortete: „Ich weiß nicht, ob mir das nach den fünf Abtreibungen in den letzten Jahren so gut tut mit dem Kindertisch. Und 71jährige erinnern mich immer so an Klaus, mit dem ich vorletztes Jahr… naja, die letzten zwei Abtreibungen…“ Einen Moment war es sehr still am Telefon. Über so was macht man keine Witze. Aber es war ja auch nicht lustig gemeint. Eher gedankenerweiternd. Sie wollte endlich eine plausible Erklärung liefern, die jedermann verstand. Gefühlte Ewigkeiten verstrichen. Hannah sah förmlich vor sich, dass ihre Freundin am anderen Ende der Leitung in Schockstarre verfallen war. Doch plötzlich löste sich etwas und dann … lachte Maja – zuerst ganz leise und, als Hannah sie nicht unterbrach, sondern einfach schwieg, wurde ihr schüchternes Glucksen zu einem lauten Prusten. Was war ihr auch anderes übrig geblieben. Hannah saß dann auf der Hochzeit am Tisch neben ihrer besten Freundin Tessa.

Dieses Erfolgserlebnis hat Hannah angespornt. Mit der Zeit ist sie immer professioneller geworden in der Präsentation ihrer Lebensentwürfe. Wenn eine Kollegin sie auf der Arbeit fragt: „Und? Wie verbringst du deinen Urlaub?“ als würde sie sich gerade erkundigen, wie die Brustkrebs-OP gelaufen ist, sagt Hannah: „Ich fliege wieder in den Kongo. Ich hab Sextourismus ja vor einigen Jahren für mich entdeckt.“ Oder wenn Hannahs männliche Kollegen um sie herumstehen und mit ihren Kindern angeben, die gerade von ihren Hausfrauen und Müttern erzogen werden, dann sagt Hannah ungefragt: „Ich hasse ja Kinder. Ich hab mich sterilisieren lassen, als ich 18 war.“

Die größte Herausforderung war Onkel Albert, den sie auf dem 90.Geburtstag ihrer Oma Christa wiedersehen sollte. Hannah hatte geübt – betrunken, vor dem Spiegel, im Auto auf der Hinfahrt, also nüchtern, und sie hatte immer darauf geachtet, weder rot zu werden, noch den Hauch eines Lächelns im Mundwinkel zuzulassen. Am Ende konnte sie es kaum noch abwarten. Endlich saß sie an der weiß gedeckten Tafel mit dem Silberbesteck und den Tellern mit Goldrand. Onkel Albert ihr genau gegenüber. Und natürlich ließ er nicht lange auf sich warten: „Na, Hannah, was gibt’s Neues von der Familienplanung?“, er zog sein Grinsen so in die Breite, dass Hannah fürchtete, es würde demnächst sein Gesicht sprengen, „TICKTACK TICKTACK …“, fügte er zwinkernd hinzu. Hannah holte tief Luft und sagte dann: „Das ist bei uns nicht meine Aufgabe. Das mit dem Kinderkriegen übernimmt Franzi. Wir sind jetzt seit zwei Monaten zusammen und wollen übernächste Woche die erste künstliche Befruchtung angehen. Bist du als Samenspender interessiert?“ Oma Christa verschluckte sich fast an ihrem Erdbeerkuchenstück. Und erst im Nachhinein fiel Hannah auf, dass es ein unterdrückter Lachanfall war und ihre Oma ihr zugezwinkert hatte.

Hannahs Leben ist nicht einfacher geworden, seit sie diese neuen Lebensentwürfe plant. Aber es hat deutlich an Dramatik gewonnen. Sie verbringt oft ganze Feierabende mit dem Ausdenken neuer Geschichten – sie hat ja sonst kaum was zu tun ohne Kinder und Mann. Mittlerweile macht ihr die Sache so Spaß, dass sie sich zurückhalten muss, nicht selbst Leute in der Straßenbahn anzusprechen und sie zu beten, sie nach ihrem Beziehungsstatus zu fragen. Einfach weil sie`s kann.

Sonja Weichand wuchs in Würzburg auf und studierte hier Literaturwissenschaft und Geschichte. Sie arbeitete sechs Jahre als Regieassistentin und Regisseurin am Theater Augsburg und Theater Vorpommern. Seit 2016 ist sie selbstständige Autorin und ist nach drei Jahren in Berlin letztes Jahr in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Neben vier veröffentlichten Theaterstücken schreibt sie Gedichte, Kurzgeschichten und Satiren. Aktuell arbeitet sie an ihrem neuen Roman, der unter anderem in Würzburg spielen wird. An der Universität Würzburg leitet sie außerdem den Kurs „Literarisches Schreiben“.

Mehr Infos auf sonjaweichand_autorin bei Instagram oder unter sonjaweichand.com.