Eine Ode ans Flanieren.
Ich begebe mich in die Stadt. Mit einem Plan. T-Shirts, ich bräuchte ein paar T-Shirts. Im entsprechenden Laden angekommen, sehe ich jedoch, dass mehrere Mitmenschen wohl denselben Plan gefasst haben. Noch bevor ich mich fragen kann, warum sie T-Shirts kaufen wollen, obwohl doch ihre Hosen viel zu kurz sind, mache ich kehrt, um billiges Männerdeo gegen Frischluft zu tauschen.
Plansoll nicht erfüllt bei simultanem Zeitüberschuss. Wie damit umgehen als herumgehen, denke ich bei mir, bevor ich, schon etwas weniger denkend, Schritte setze. Ich blicke in verschiedene Gesichter, Gesichter von schönen Menschen, die sich für hässlich halten – und hässlichen Menschen, die sich für schön halten, studiere Auslagen, um sie wieder zu vergessen. Schritt für Schritt für Schritt. Hier eine schimpfende Mutter, dort ein paar ungelenke Pubertiere mit zu großen Nasen und Schuhen, Fleischkäsgeruch, dann Lagerfeld … der ist ja jetzt auch tot … was hat der nochmal über Jogginghosen gesagt …? Junge Frauen mit unfassbar hässlichen Goldrandbrillen und heraufgezogenen weißen Socken … hier muss irgendwo eine riesige Bad-taste-Party sein … wo bin ich eigentlich grade … unwichtig, es riecht nach Kaffee. 2,20 für einen Espresso, war auch schonmal billiger … was die wohl am Tag verdienen mit ihrer Plörre … warum können die nicht, was jeder italienische Autogrill kann …?
Aber trotzdem schön, hier kurz zu stehen, ein Zigarettchen zu rauchen und Espresso zu trinken. Und zu schauen. Auf Nichtraucher, die eigentlich gern rauchen würden. Auf die schimpfende Mutter von vorher, die jetzt ins Telefon schimpft; ein Autoprolet lässt seinen AMG aufheulen … was der wohl macht, wenn er allein im Bett liegt … vielleicht weint er leise beim Masturbieren …? Nein, so darfst du nicht denken … oder irgendwie doch. Doch, heute darf ich das. Denn ich flaniere.
Ja, in der Tat, ich bin in den Flaniermodus geraten. Was für ein Glück. Sie sind selten geworden, die Flaneure … eigentlich findet man sie fast nur noch in Jahrhundertwende-Romanen. Dabei ist es die wohl schönste Nichttätigkeit der Welt. Als säße man in einem Boot und beobachtete von dort aus leicht mitleidig das hektische Treiben am Ufer, dessen unmelodisches Rauschen sogar vom leisen Plätschern des Wassers an die Bootswand übertönt wird. Warum ist diese eigentlich so leichte Kunst derart in Vergessenheit geraten? Vielleicht, weil sie gar nicht (mehr) so leicht von der Hand, oder besser, vom Fuße geht? Vielleicht, weil immer mehr von uns verzweifelt versuchen, ihrer Existenz Sinn einzuhauchen? Aus Furcht, in unverplanter Zeit die – eigentlich doch so herrliche – Sinnlosigkeit ihres Daseins zu erfahren, holen sie sich Zeitfresser ins Leben. Schwierige Partner zum Beispiel oder/und Kinder oder/und Einfamilienhäuser. In Letzteren funktioniert zwar alles elektrisch, aber dafür bleibt ja wieder mehr Zeitfresszeit, um die Kinder zu möglichst unselbstständigen Menschen zu erziehen, sich über zu schwere Abiturprüfungen oder fleisch(!!)fütternde Konkurrenzeltern zu beschweren.
Mit steigendem Alter und sinkender Bedeutung für den Nachwuchs, der sich längst mit Hingabe dem Zeitfresser Smartphone widmet, bieten im Anschluss die Baustellen Körper und/oder Selbstwert wiederum herrliche Zeitfraßoptionen. SUVs und Sportwagen, in stetiger Kreisbewegung durch die Stadt bzw. vors Café gefahren, lassen männliche „Abwärtstrends“ beziehungsweise teure Stiefel, Sonnenbrillen und Gesichtsschmiere weibliche Baufälligkeiten für kurze Momente vergessen. Dennoch piekst es in den wenigen unkontrollierten Augenblicken immer wieder kurz durch, das Nichts, wie ein kleiner Nadelstich ins Designerkissen – und schmerzt von Jahr zu Jahr mehr. Je länger man sich ihm widersetzt, desto schlimmer piekst es. Dabei wäre das Nichts doch so gern unser Freund, würden wir es einfach akzeptieren.
Schließlich passt kaum etwas besser zusammen als unser im Kern doch relativ sinnfreies, weil letztlich stets irgendwie selbstreferenzielles Dasein und das Nichts selbst. Ob sieben oder elf Milliarden mal null, heraus kommt immer null. Denk ich so bei mir, Schritt für Schritt für Schritt. Denke, dass es für all diese Annahmen sicher stichhaltige philosophische Gegenthesen gibt, die meine Annahmen aufheben – so wie sich letztlich alles aufhebt und doch wieder zu null wird. Denke, wie angenehm wurscht mir das ist. Denke, ich sollte (mir) viel öfter Nichts draus machen. Und denke, ich habe noch ziemlich viel
Zeit dazu – na, wenn das Nichts ist …