Alle Artikel mit dem Schlagwort: Nachdenken

Auf Augenhöhe- Müdigkeit. Erschöpfung. Depression.

Willkommen im neuen Jahr. Was sich zwischen den Jahren andeutete, wird jetzt Wirklichkeit. Das neue Jahr startet nicht nur verkatert und grau, sondern auch ohne Gnade. Perspektivlos, trotz all der Vorsätze – und hoffnungslos, trotz all des Neubeginns. Von Sydney bis New York, von Plauen bis Aachen. Gewollt oder nicht, jeder fängt neu an und man selbst steckt mittendrin. Dem Jahresbeginn entzieht sich niemand, und so beginnt das neue Jahr, wie das alte aufgehört hat, es stirbt. Im Gegensatz zum Menschenleben ist das Jahresleben klar strukturiert, designierter Start und designiertes Ende. Das Jahr hat keine falsche Hoffnung, aber auch keine falsche Angst. Es liegt 365 Tage im Sterben und selten spürt man das so intensiv wie am Jahresbeginn. Die Festtage sind abgehandelt, die alten Freunde wurden gesehen und der alten Feinde wurde gedacht. Dopamine sind verbraucht, Adrenaline nicht wieder aufgefüllt. Man nüchtert aus. Der Blick wird endlich scharf und die Welt wird grau. Ohne Luftschlangen und Glühweinnasen verliert das Leben seine Weichzeichner. Wenn die bunten Lichterketten erloschen sind, die bunteren Feuerwerke abgebrannt und der Rauch …

Brief in die Zukunft

Lieber Prof. Dr. B.A. M.A. LMAA. Anakin Talbott-Muriel, wenn Sie diesen Brief lesen, bin ich schon mindestens 2.000 Jahre tot. Deshalb möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um mich vorab bei Ihnen in aller gebührenden Form zu entschuldigen. Denn als Archäologie-Koryphäe im Jahr 4019 haben Sie wahrlich nichts zu lachen. Während Generationen von Altertumsforschern vor Ihnen das große Glück genossen, eindrucksvolle Bauwerke, meisterhafte Kultstätten, wunderschöne Kunstgegenstände und ab und zu wenigstens einen römischen Puff oder spätmittelalterlichen Donnerbalken ausgraben zu dürfen, hat meine Generation Ihnen und Ihren Forscher-Kollegen doch ein äußerst zweifelhaftes Erbe hinterlassen. Wie unfassbar dröge muss es für Sie sein, sich in wochen- und monatelanger Arbeit durch Erde, Staub und natürlich jede Menge Plastik zu graben, um schließlich auf die kümmerlichen Überreste eines 40.000 Quadratmeter großen real-Supermarktes in Ostwestfalen-Lippe zu stoßen! Welche wissenschaftlichen Schlüsse Sie dabei aus dem Nebeneinander von Stereoanlagen, Dosen-Streichwurst und Duft-Weichspüler ziehen mögen – ich mag gar nicht daran denken. Kaum mehr Freude werden Sie bei der archäologischen Erschließung diverser nahe Würzburg gelegener Neubaugebiete haben. Lassen Sie sich von den Dachformen vieler …

Von Katzen & Mauern

oder Warum ich mal eine verrückte alte Katzenlady werde   Es war Dezember 1987. Das ist 31 Jahre her. Ich war vier. Wir wohnten im Dachboden einer Kirche in Nürnberg. Ich begriff nicht viel, außer der Tatsache, dass ich meine Oma erstmal für eine lange Zeit nicht sehen können würde. Und dass es eine Mauer gab, die nicht gut war. Ich wurde politisch erzogen, die Nachrichten gehörten bei uns zu Hause zum täglichen  Welt-Unterhaltungsprogramm. Mein Bruder wurde 1987 in Sachsen gezeugt und 1988 in Nürnberg geboren. Seinen ersten Satz sprach er 1989: „Die DDR ist aufdelöst.“ Meine Eltern stießen zu Hause an, an dem Tag, an dem die Mauer fiel. Ich bin seit über 30 Jahren westdeutsch, fränkisch und bayerisch sozialisiert. Aber: Ich spreche weder Sächsisch noch Fränkisch, weil meine Eltern wollten, dass ich überall zu Hause sein kann. Die Idee war gut, die Realität noch nicht bereit. Ich bin in den Gedanken der meisten eine „Zugereiste“. Und ich wünschte, ich könnte das Wort richtig aussprechen, um zu beweisen, dass ich keine „Zugereiste“ bin. Manchmal …

Von Gaben, Schicksalen und Prophezeiungen

Anja Reiner blickt jeden Sonntag beiRadio Gong in die Zukunft der Würzburger Zuhörer. In diesem Jahr feiert sie dort ihr 10-jähriges Jubiläum. Die 43-Jährige lebt in Karlstadt und entdeckte ihre Leidenschaft fürs Tarot vor 15 Jahren. Anja, wie kamst Du dazu, Karten zu legen? Ich habe schon in meiner Kindheit Vorahnungen gehabt, aber als Kind kann man damit ja nicht umgehen. Meine Großmutter war auch eine sehr spirituelle Frau. Sie legte Karten und hatte Träume und Visionen, die eingetreten sind. Angst hat mir das aber nie gemacht. Wann hast Du das Kartelegen zum Beruf gemacht? Erstmal habe ich das hobbymäßig praktiziert – und als immer mehr Menschen zu mir kamen, habe ich mich 2007 selbstständig gemacht: erst nebenberuflich und dann irgendwann hauptberuflich. 2007 begann ich auch mit dem Kartelegen bei Radio Gong. Seither habe ich regelmäßige Stammkunden, die über Jahre hinweg immer wieder zu mir kommen. Auch meine Familie und meine Freunde fanden toll, dass ich mich selbstständig gemacht habe. Sie bemerkten selbst, dass es passt, was ich lege und standen immer hinter mir. Was …

LEBENDE BÜCHER

Seit September 2017 gibt es ein neues soziales Projekt in unserer Stadt. Die Rede ist von „livebooks | Fragen. Verstehen. Wertschätzen.“, einem neuen Angebot des Fördervereins Wärmestube e. V. Mit den Stichworten „Fragen. Verstehen. Wertschätzen.“ machen die Veranstalter bereits deutlich, worum es ihnen bei dem Projekt geht: um ein Miteinander statt Übereinander, um eine Begegnungen der etwas anderen Art. Im Mittelpunkt des Projekts stehen „lebende Bücher“. Dabei handelt es sich um Menschen, die meist unter besonderen Lebensumständen aufgewachsen sind oder denen außergewöhnliche Lebensschicksale zuteil wurden. So wie auch Michael S. (Name geändert) Wie bist du auf livebooks aufmerksam geworden? Teilnehmer: Ich kannte den Förderverein bereits aus der Schmökerkiste, in der ich seit längerer Zeit aktiv bin. Adrian [Anm.: Betreuer des Projekts] sprach mich dann gezielt darauf an, ob ich mir vorstellen könnte, an dem neuen Projekt mitzuwirken. Anfangs war ich skeptisch, doch mit der Zeit sah ich auch, dass es wichtig ist, darüber zu reden, und dass es auch mich im Umgang mit meiner Erkrankung weiterbringt. Michael S. leidet seit fast 20 Jahren an den Symptomen …

#YouProbably Too?

Angst. Wut. Scham. Verzweiflung. Die richtigen Worte, das auszudrücken, was man fühlt? Fehlanzeige. Stattdessen: gar keine Anzeige. Was bleibt, ist fortwährendes Schweigen, das dich zu brechen droht, ehe du es brechen kannst. Bis eine die unbequeme Wahrheit ausspricht – und es ihr plötzlich Tausende gleichtun. Wenige Wochen ist es her, dass die New York Times einen Artikel veröffentlichte, in dem über ein Dutzend Frauen den Hollywood-Mogul Harvey Weinstein anklagen, sie sexuell belästigt zu haben. Seitdem vergeht kein Tag ohne neue Äußerungen mutmaßlicher Opfer, in sechs Fällen ist sogar von Vergewaltigung die Rede. Bei den Betroffenen handelt es sich vornehmlich um junge Schauspielerinnen, die zum Zeitpunkt der Übergriffe am Anfang ihrer Karriere standen, unter ihnen namhafte Stars wie Angelina Jolie, Cara Delevingne und Oscar-Preisträgerin Lupita Nyong’o. In einem Gastbeitrag für die New York Times schildert die 34-Jährige, wie sie 2011 als Schauspielschülerin den mächtigen US-Produzenten kennenlernte – und was nach dem obligatorischen Abendessen in dessen Wohnhaus geschah. Demnach soll Weinstein seinem Gast ohne Umschweife eine Massage angeboten haben. „Zuerst dachte ich, er scherzt“, erinnert sich die …

HALLO NACHBARN

So viele neue Nachbarn aus aller Welt hat es lange in Deutschland nicht mehr gegeben. Schlimme Geschichten liegen hinter diesen Menschen; ein Grund mehr, es ihnen in unserem friedlichen Land, in unserer hübschen Stadt so schön wie möglich zu machen. Mit Winken und Wasserflaschen am Bahnhof ist es aber nicht getan. Wir müssen diesen Menschen Mut machen und ihnen zugleich zeigen, wie hier der Hase läuft, was geht, und was nicht, wie man hier lebt, was in unserem Grundgesetz steht, wie man unsere Sprache spricht – und was wir unter unseren „freiheitlichen Grundwerten“ verstehen. Wir brauchen viele liebe Nachbarn in den nächsten Jahren, um das zu schaffen. Menschen, die zum Beispiel ein Freiwilliges Soziales Jahr in Würzburg leisten, Menschen, die mit Rat und Tat zur Seite stehen, Menschen, die vielleicht noch Platz haben bei sich und gerne jemanden Fremdes ohne Vorurteile aufnehmen – und Menschen, die sich ignoranten, fremdenfeindlichen Mitbürgern in den Weg stellen und ihnen Herz und Hirn öffnen. Bei uns gibt es genug von allem, das nötige Teilen wird aus einem reichen Land kein …

GOLDWERT – Über den Reichtum des Wartens

27 Tage warten wir auf öffentliche Verkehrsmittel / 22 Wochen wartet der Mann vor Umkleidekabinen auf seine Frau / 7 Monate warten wir im Wartezimmer / 5 Jahre verbringen wir beim Schlangestehen Nie zuvor verfügten wir über so wenig frei verfügbare Zeit wie heute! Und das, obwohl die moderne Medizin die Lebenszeit des Menschen verlängert. Es scheint, als könnte nichts diesen Trend zur Hochgeschwindigkeitsökonomie unterbinden. Selbst die modernste Technik versucht vergebens, durch immer effektivere und effizientere Arbeitsvorgänge für uns Menschen Zeit zu sparen. Doch wir scheinen unabwendbar unter Zeitdruck und Stress zu stehen. Diese Umstände führen bei uns Menschen zu Intoleranz gegenüber den vorzufindenden Normen vergangener Generationen. Statt die alten Traditionen zu pflegen und mit Freunden die Nachmittagsstunden einem Kaffeeklatsch zu widmen, verfallen wir in Verhaltensmuster, die von Fastfood, Briefings, Speeddating und Snacks gesäumt sind. Permanent versuchen wir Zeit zu sparen. Dass wir währenddessen vergessen, die uns verfügbare Zeit zu leben und zu genießen, mag für einen Außenstehenden unverständlich erscheinen. Der „Zeitsparer“ ist in Eile und bekommt von dem wertvollen Verlust meist kaum etwas mit. An den …